Seminar Gymnasialfach Kunsterziehung                                                                                                                                                   Fachgebiete der Kunsterziehung
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Vom Helldunkel in der Schülerzeichnung 

Uli Schuster 2000

"Kein Kind kommt ohne Vorbild oder Anleitung auf den Gedanken, seine Bilder zu schattieren, weder, um den Eindruck der Helligkeitsverteilung 'richtig' wiederzugeben, noch auch, um eine körperliche Wirkung zu erzielen."

(Wolfgang Metzger, "Gesetze des Sehens", Frankfurt a. M. 1975, S. 316)

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Trotz dieser eindeutigen Aussage der Wahrnehmungspsychologie kommt das Helldunkel in der Kinder- und Jugendzeichnung vor und es scheint angebracht, daß sich der Kunsterzieher Gedanken darüber macht, in welchen Weisen das Helldunkel für Schüler eine Rolle spielt, wann und in welchen Kontexten es ihnen nahezubringen ist, wenn sie schon -wie Metzger vermutet- von selbst nicht draufkommen. Kommen Kinder ohne geeignete Vorbilder überhaupt auf etwas und gibt einen Zeitpunkt, wo sich für Kinder die Frage nach einer 'richtigen' Wiedergabe von Helligkeitsverteilungen im Bild stellt und somit Vorbilder für solches Tun gefragt sind?
Wenn ich sage, das Helldunkel kommt in der Kinderzeichnung vor, dann meine ich damit zunächst die schlichte Tatsache, daß beim Zeichnen mit Stiften oder auch beim Malen mit Farben ein Helldunkel kaum zu vermeiden ist: Eine auf hellem Papiergrund mit Bleistift umrissene Form definiert den Rand der Form als dunkel, die Form selbst als hell. Unterschiedlicher Druck läßt Stifte unterschiedlich wirksam abreiben. Farben auf hellem Malgrund trocknen bei unregelmäßigem Farbauftrag unterschiedlich deckend und damit unterschiedlich hell auf. Daneben besitzen sie als Farben einen eigenen Helligkeitswert. Schon die einfachsten Kritzeleien kennen das Helldunkel in der Form, daß Strichlagen durch Überlagerung und Verdichtung dunkle und helle Zonen bilden. Solches Helldunkel wird vom zeichnenden Kind sicher auch als Hell und Dunkel empfunden jedoch kaum in dem Sinn, von dem Metzger spricht, nämlich als Licht und Schatten.
Helldunkel kommt in der entwickelten Kinderzeichnung auch vor als Eigenschaft von Dingen, als Objekttönung im Sinn einer Lokalfarbe oder als Objektmerkmal im Sinn einer Textur. Haare, Gras, Stroh, Wolle wird in Strichbündeln charakterisiert. 
Worum es hier geht, ist die Frage, wann und unter welchen Umständen sich die Wahrnehmung von Beleuchtungsunterschieden in der Helldunkel - Darstellung erstmals zeigt. Dazu scheint ein Ausflug in die Kunstgeschichte hilfreich. 

Abb Florentiner Meister 14.Jh

"Nicht nur unbeholfene Kinder, sondern auch die größten Künstler haben Jahrtausende lang seit der Steinzeit auf ihren Gemälden die Beleuchtungsunterschiede unbeachtet gelassen.".."In Europa tat man es bis zum Beginn der Neuzeit. Und auch wo man z.B. die Körperschatten im Bild wiederzugeben versucht, ist es zunächst keineswegs, um die richtige Lichtverteilung darzustellen, sondern immer noch, um Eigenschaften der Dinge, nämlich Rundungen des Körpers, Gewandfalten u. dergl. anzudeuten." 
(Metzger S.317)

 
Im 15. Jh vollziehen die Maler und Zeichner einen Wandel im Blickwinkel auf die Bedeutung des Helldunkel in der Darstellung. Während die alte Vorstellung des "Rilievo" ausgeht von einer plastischen Erfahrung von vorne und hinten, die einem statischen frontalen Licht entspricht, wird nun das Helldunkel bezogen auf eine reale Beleuchtung, die von den verschiedensten Quellen herrührt und einer natürlichen Lichtsituation nachempfunden ist. Lichtquellen werden nun ins Bild integriert und der Schattenwurf kennt nun neben dem Körperschatten auch den Schlagschatten.

Wahrnehmungspsychologisch scheint ein Zusammenhang gegeben zwischen perspektivischer Raumwahrnehmung und der Wahrnehmung eines Beleuchtungslichts.
"Hubert und Jan van Eyck im Norden und Masaccio im Süden sind die Schöpfer des eigentlichen Beleuchtungslichts. Die Geschichte seiner Entfaltung bis zur Erringung der unbeschränkten Herrschaft über die abendländische Malerei zwischen 1500 und 1530 wird im Norden vor allem von der altniederländischen Malerei getragen und im Süden von einzelnen Meistern wie Piero della Francesca, Mantegna, Antonello da Messina, Signorelli, Giovanni Bellini, Perugino und anderen mehr."
( Wolfgang Schöne, "Über das Licht in der Malerei", Berlin 1979, S. 119) 

Metzger hat eine Erklärung dafür, warum unsere Wahrnehmung in erster Linie den Lokalfarben gilt: 
"Wir sehen, was wir wissen, nicht was eben auf unsere Augen einwirkt. Die Farben der Dinge sind Gedächtnisfarben." (S. 314) 
"Man sieht von Anfang an und bis zuletzt zwar sehr genau, ob ein Ding aus schwarzem, grauem oder weißem Stoff besteht oder mit diesen Farben bemalt ist, aber höchst ungenau, wie hell es eben beleuchtet ist, und überhaupt nicht, welche Stärke das von seinen verschiedenen Stellen zurückgestrahlte und ins Auge gelangende Licht besitzt."(S.315)

Abb: Schule des Filippo Lippi 15.Jh


 
Schon die Meister der Renaissance haben einen Trick gekannt, mit dessen Hilfe sich die Wahrnehmungsfähigkeit von Helldunkel steigern läßt. Sie haben ihre Lehrbuben zum Üben der Körpermodellierung Gipsabgüsse von Plastiken zeichnen lassen. An der weißen und glatten Gipsoberfläche wird die Helldunkel - Verteilung deutlicher sichtbar als am farbigen Naturobjekt. Wie ein Kupferstich aus der Renaissance von Veneziano 1531 zeigt, hatte der Bildhauer Bandinelli, ein Zeitgenosse Michelangelos, noch einen weiteren Trick parat: er praktiziert das Modellzeichnen bei Kerzenlicht, also bei einer punktförmigen Beleuchtung, die nicht nur die Schlagschatten klärend vereinfacht gegenüber dem stets gestreuten und diffusen Tageslicht, sondern auch die Verläufe der Körperschatten prägnanter ausbildet.
Ganz offensichtlich bedarf die Wahrnehmung von Körperschatten genauso wie die der Perspektive besonderer Voraussetzungen. Beim Helldunkel wären diese zu sehen in einem gerichteten Halblicht und in weißen Körperoberflächen. In Bandinellis Akademie stehen neben den figürlichen Modellen eine Reihe von Schalen und Vasen bereit, um "nach dem Runden" zu zeichnen, Aber vor das "Runde" würde eine Stufenlehre des Helldunkel das "Kantige" setzen. Ich selbst bevorzuge im Unterricht Quader und Zylinder, die ich zu kleinen Stilleben gruppiere.
Was den Lehrweg der Renaissancekunst anlangt, haben wir allerdings soeben eine ganz wesentliche Phase übersprungen. Vor das Studium des "Runden" am gipsernen Modell hat die Werkstattpraxis genauso wie die Praxis der Akademie das Zeichnen nach dem "Muster" gesetzt. In seinem Buch "Kunst und Illusion" widmet Ernst Gombrich dieser Praxis ein ganzes Kapitel und berichtet zum Umfang der Praxis des Musterzeichnens, daß noch im Jahre 1888 ein Katalog der National Art Gallery in South Kensington 500 Titel solcher Musterbücher enthielt. (Gombrich, "Kunst und Illusion, Stuttgart 1986, S.184) 
Die folgenden beiden Abbildungen rechts zeigen Ausschnitte aus einem Kupferstich von Galle 1595 "Color Olivi"; zwei Lehrbuben zeichnen nach "Muster" (Augen) und nach dem "Runden" (Büste)

Das Musterzeichnen hat schließlich das zu vermitteln, was der Zeichner immer noch nicht weiß, wenn er mit Hilfe einer experimentellen, physikalischen Anordnung das Helldunkel am Objekt isoliert und wahrgenommen hat: Wie sind die weich verlaufenden Schattierungen am runden weißen Körper in zeichnerische Spuren, Stiftabrieb, Striche zu übersetzen? Nichts an dem beobachtbaren Phänomen Körperschatten deutet hin auf Linien oder eine zeichnerische Spur. Das gezeichnete Muster liefert demnach den Formelschatz, das Vokabular, die Konventionen, nach denen das beobachtete Phänomen in bildhafte Zeichen eines bestimmten Zeichenmaterials übersetzt werden kann, übersetzt werden soll, übersetzt werden muß.

Kein Mensch kann das zeichnerisch vermitteln, was er in der Natur sieht, ohne es in irgendeine Form zeichnerischer Konvention zu transformieren. Demnach kommt bei allen nachfolgenden Überlegungen der Frage nach den Zeichenkonventionen, die über die Zeiten hinweg entwickelt wurden, um Helldunkel in einer Bildsprache auszudrücken, eine besondere Bedeutung zu.

Da der Zusammenhang von Beleuchtung und Helldunkel als eine relativ späte historische Entwicklung gesehen wird bleibt im Moment die von Metzger oben zitierte These offen, nach der eine Modellierung auch unabhängig von einem Interesse für Beleuchtung denkbar ist und historisch vorkommt.

Kinder definieren Gegenstände in ihren Zeichnungen in erster Linie über eine Art Umriß. Ich sage "eine Art Umriß", weil ein Kind schwerlich unterscheidet zwischen "dem Kontur", also dem Umriß, der eine Figur im klassischen Bildhauersinn nach der sie umgebenden Luft, Umgebung begrenzt, und Linien, die innerhalb diesem Kontur Teilgliederungen umgrenzen. Ist "der Kontur" im ersten und engeren Sinn immer eine geschlossene Linie, also eine Linie ohne Anfang und Ende, so kennt die Kinderzeichnung ganz selten eine solche Konsequenz und Eindeutigkeit. Andererseits verzichtet das zeichnende Kind nur auf Verlangen eines Lehrers und unter einiger Anstrengung (z.B. beim Scherenschnitt) darauf, Gliederungen einer räumlichen Figur auch innerhalb des Konturs zu kennzeichnen. Die Umrisse der Kinderzeichnung beschreiben also ein Gemenge aus Kontur und "Binnenkontur".

 
"Die Konturlinie, der Umriß, ist ein Abstraktum. Und dennoch wird durch Umreißen der dargestellte Gegenstand jedermann begreifbar. Die Umdeutung des Gesehenen ist eine wahrgenommene Begriffsbedeutung, ist stufenlos und selbstverständlich. Die Linie also folgt den Grenzen eines Körpers und seiner Teile, wobei die Kontur - manche sagen auch heute noch der Kontur - aus einer einzigen geschlossenen Linie bestehen kann, ebenso aber auch aus Linienfragmenten - Goethes "Fraktur" -, die in der Gestaltvorstellung ohne weiteres ergänzt werden."
(Walter Koschatzky, "Die Kunst der Zeichnung", München 1987, S. 205)
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Beim Kind entwickelt sich die Zeichnung aus dem Kritzeln heraus, so daß eine "klare Kontur" bereits das Ergebnis eines längeren Entwicklungs- und auch Disziplinierungsprozesses darstellt. Die Bedeutungen von Körpergrenze, Binnenkontur, Textur und Helldunkel existieren für das Kind auch im Alter von 10 Jahren noch nicht als geschiedene Wahrnehmungen und Ausdrücke, sondern sind vieldeutig und damit unbestimmt. Das Kind mag sein Kritzeln mit Bedeutung assoziieren. Verständlich für ein Gegenüber im Sinn von Kommunikation wird die Artikulation erst durch Annäherung an Konventionen, d.h. an gemeingültige Lesarten.

Die Wahrnehmungspsychologie deutet den Umriß als zur Figur gehörig. Wenn auch in erster Linie damit eine Grenze des Körperhaften, also eher etwas über den Tastsinn auf unsere Erfahrung gekommenes als über das Auge wahrgenommenes gemeint sein wird, so ist diese Grenze in der Zeichnung doch als Dunkelheit auf hellem Grund realisiert. Ich bin deshalb der Überzeugung: der erste Weg zu einem Verständnis von Modellierung führt über die Wahrnehmung der Objektgrenzen. 
Aus der Vermutung, daß es sich bei der kindlichen Umrißzeichnung um ein Gemenge aus verschiedenen und unbestimmten Bedeutungen handelt, leite ich einen Entwicklungsauftrag ab in dem Sinn, daß es in der Kunsterziehung darum geht Aufgaben zu finden, die auf eine Trennung und damit Artikulation und Bewußtwerdung der Bedeutungen hinauslaufen. 
Die Frage wäre demnach:
Welche Techniken, Motive, Aufgaben, lassen sich finden, um die Funktionen der Begrenzung, der Wölbung und Beleuchtung zeichnerisch voneinander zu unterscheiden?
Vier Problemebenen sind somit abzuhandeln:

1. Trennung von Kontur und Kolorit
2. Überschneidung, Schichtung, Verflechtung,
3. Kantenbildung und Kontrast
4. Verlaufsbildung und Auflösung

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1. Die Trennung von Kontur und Kolorit
Erkenntnistheoretisch halte ich die bewusst praktizierte Unterscheidung von Umriss und Füllung für die erste Stufe einer Wahrnehmung von Helldunkel. Sie kommt bereits in der altägyptischen Malerei vor. "Das Wörterbuch der ägyptischen Sprache nennt unter dem Stichwort Farbe auch die deutschen Bedeutungen "Äußeres, Aussehen eines Gottes, Art, Wesen, Charakter",. Determiniert ist die entsprechende Hieroglyphengruppe entweder mit einem Tierfell oder mit Haar. Das führt in einen sinnlich wahrnehmbaren Bereich und scheint die sprachlich logische Möglichkeit zu sein, Dinge, vor allem Menschen voneinander zu scheiden. Es ist ein Wort zur Abgrenzung von Individuen. In diese Richtung paßt die Entstehungszeit. Denn die kollektivistisch bestimmte Epoche der Pyramidenbauer, das Alte Reich, kennt das Wort noch nicht."
Die Trennung mag zunächst eine rein zeitliche sein im Entstehungsprozess eines Bildes, z.B. Umriss zuerst, dann Auffüllen der Form mit Farbe. Sie kann aber auch im Vollzug einer Arbeitsteilung auf zwei oder mehr Ausführende verteilt sein und damit Ausdruck verschiedener Kompetenzen bedeuten.
(Formann/Kischewitz, "Die Ägyptische Zeichnung", Hanau 1971, S. 22)
Der Aufbau eines Reliefs erfolgt im alten Ägypten in folgenden Stufen: Anreißen der wichtigsten Linien, Vorzeichnung in Rot, danach Korrektur und Festlegung der Umrisse in Schwarz. Die Farben Rot und Schwarz stehen zumindest anfangs für unterschiedliche personale Kompetenzen in der Werkstatt. Rot steht für den Vorzeichner bzw. Kopisten der Vorlage, u nd Schwarz für den Korrektor. Dann vertieft der Steinmetz, der eine dritte Person sein kann, den schwarzen Umriß mit dem Meißel und ersetzt ihn somit durch eine Kerbe, die er nach der Körperseite hin rundet, nach außen hin als steilen Grat stehen läßt. Die Kontur ist somit eine Anweisung auf eine Kerbe, die zum Körper hin rund verläuft. Als Letzter Akt wird Farbe flächenfüllend aufgetragen, die Konturlinie hat sich erübrigt. Die Praxis von Vor- und Reinzeichnung auf der Wand hat ihre Entsprechung im Entstehungsprozeß des Wandbildes aus einer Vorzeichnung auf Papyrus. Das Wandbild "mußte der Vorlage (wohl auf Papyrus) entsprechen, die der Künstler dem Bauherrn vorher zur Begutachtung gezeigt hatte."
(Kischewitz S. 21)
Die knappe Form der Modellierung entspricht dem ägyptischen Relief, das Plastizität im wesentlichen auf die Randzonen der sonst weitgehend flachen Körper verlegt.
In der Malerei kommt es zu einem Funktionswandel der Konturlinie: Zweitausend Jahre vor unserer Zeitrechnung erhalten die ehedem schwarzen Umrißzeichnungen der Männer eine rotbraune Farbe, die der Frauen eine ockergelbe. Im Totenbuch des Kaufmanns Kenna ( ca. 1400 v.Chr. Abb. rechts) nimmt der Maler Abstand von der kalligrafisch - schwarzen Kontur. Schwarz wird hier nur noch verwendet für Haare, Augen, Nasloch und Mundspalte und Mundwinkel, während die übrige Kontur sich dem Braun der Binnenfarbe annähert. Dies sind ihrer Wirkung nach auch Annäherungen an einen Gebrauch der Kontur im Sinn einer Modellierung.
Für eine vergleichbare Entwicklung halte ich einen stilistischen Wandel, der mir im Bauhüttenbuch des Villard de Honnecourt (frühes 13. Jh) aufgefallen ist. Die auf Papyrus mit Feder gezeichneten Figuren sind überwiegend hart linear umrissen mit schwarzer Farbe (Beispiel eines Blattgesichts linkes Bild). Deshalb war ich überrascht auf Tafel 22 bei Hahnlosers Gesamtausgabe von 1972 eine offensichtlich lavierte Zeichnung "Nackter Mann mit Vase" zu finden (rechts der Kopf der Figur) Das Anlegen von Schattenpartien mit verdünnter Farbe evoziert einen plastischen Effekt. Hahnloser schreibt dazu: "Die Technik der Lavierung ist bei den Musterblättern des hohen Mittelalters verbreitet, ja vorwiegend"..."Jene Zeit, die den Schattenstrich noch kaum kannte und verwandte, musste ja vor plastischen Aufgaben nach einem modellierenden Zeichnungsmittel suchen." Maltechnisch lässt sich das Lavieren am einfachsten dadurch realisieren, dass man eine bereits angetrocknete Tuschezeichnung mit nassem Pinsel etwas breiter als der ursprüngliche Federstrich nachfährt und so die Farbe wieder etwas anlöst und verwascht.
Der Sprung in den Kunstunterricht mag vielleicht gewagt erscheinen. Eine vom Expressionismus geprägte Kunsterziehung hat die coloristischen Neigungen, die man bei Kindern im Alter von 10 Jahren beobachten kann, mit Übungen in Primamalerei auszutreiben versucht. Mit dem Blick auf die ägyptische Malerei erkenne ich eine Logik im Entwicklungsprozeß des Helldunkel, von der ich annehme, daß sie auch entwicklungspsychologisch relevant ist. Im Alter von 10 Jahren dominiert in der Kinderzeichnung eine lineare Auffassung. Farbe tritt als zeichnerisches Mittel (Stifte) auf oder als koloristisches Mittel (Malkasten) hinzu. Die Vorliebe für Comics in diesem Alter belegt in meinen Augen diese Tendenz. Man kann den Kindern dieser Altersgruppe eine Unterscheidung von Vorzeichnung und Reinzeichnung nahebringen, wenn auch klar sein muß, daß dies nur unter bestimmten Voraussetzungen von den Kindern eingesehen wird. Umriß und Körperfarbe scheinen erst einmal getrennt wahrgenommen werden zu müssen, um sich im Verlauf einer gedanklichen Entwicklung wieder einander anzunähern in dem Sinn, daß der Umriß einer abgedunkelten Körperfarbe entspricht.Beispielsweise stelle man als Thema die Darstellung einer ägyptischen "Grabkammer" und erkläre den Kindern Grundlagen der ägyptischen Malerei. Die Betrachtung entsprechenden Bildmaterials liefert die notwendigen Anregungen. Die Vorzeichnung erfolgt mit Blei, auf einen farblich bereits präparierten Malgrund (mittleres Braungrau). Die dargestellten Objekte werden daraufhin mit einer begrenzten Palette (z.B. braune Naturtöne) ausgemalt und abschließend mit verdünnter Farbe, Beize o.dergl. und Feder umrissen.
"Totentanz": Ein großer Bogen Packpapier wird auf den Boden gelegt. Ein Schüler legt sich darauf in einer bewegten Pose, in der alle Gliedmaßen wie in einer Tanzhaltung bewegt erscheinen. Mit Kreide markiert ein zweiter Schüler alle Gelenke, die später zu einem Gliedergerüst verbunden werden. Nun kann eine Gruppe von 3-4 Schülern nach einer schematischen Vorlage über der Gliederfigur mit Kohle ein Skelett entwerfen. Nachdem die Knochen schwarz konturiert sind, wird ihre Fläche mit weißer Kreide aufgefüllt, es entsteht der Eindruck einer Höhung, wenn die schwarze Kontur mit dem weißen Innenleben der Knochen verwischt wird. Zur Isolation der Figur ist es sinnvoll, den "Hintergrund" mit schwarzer Farbe zu bemalen.
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Weitere Aufgaben:
Eine vorgegebene Umrißzeichnung (z.B. Arabesken) mit reduzierter Palette kolorieren lassen.

Eine Bleistiftzeichnung der Schüler kopieren, mit verdünnter Beize in zwei Tönen kolorieren und abschließend mit der Feder in einem dunkleren Ton konturieren lassen.

Für ein Wandbild in der Schule fertigen die Schüler gezeichnete Entwürfe. Mit der Klasse sucht man einen geeigneten Entwurf aus, kopiert ihn für alle und läßt die Kopien kolorieren. Den besten Entwurf versieht man mit einem Quadratnetz und läßt ihn auf die Wand übertragen und ausführen.

Hinterglasmalerei, Stoffmalerei, Comiczeichnung legen eine Trennung von Umriß und Kolorit nahe und scheinen demnach als Techniken geeignet, den oben beschriebenen Erkenntnisprozeß zu fördern.

2. Überschneidung, Verflechtung und Schichtung
Überschneidungen jeder Art werden in der Kinderzeichnung weitgehend vermieden, kommen aber im Alter von 10 Jahren durchaus vor. Im Sinn einer Schärfung des Bewußtseins für den Umriß wird der Kunsterzieher in diesem Alter und in der ganzen Unterstufe Aufgaben suchen, die eine Schichtung im Bild und damit Überschneidungen und Verflechtungen verlangen. Interessanterweise taucht in der Ägyptischen Zeichnung mit der Hintereinanderstaffelung von Figuren auch die gestufte Tonigkeit von Farbe auf. In dem oben bereits erwähnten Totenbuch des Kaufmanns Kenna aus dem 14. Jh. v. Chr. sind mehrere Beispiele für hintereinander geschichtete Figurengruppen enthalten, deren Farbgebung die Trennung der Schichten mit einem Wechsel von Hell und Dunkel lösen. Da es sich um Gruppen von Männern und Gruppen von Frauen handelt, bezeichnet hier der Farbton nicht mehr das Geschlecht, sondern die Staffelung im Raum.

Mit der räumlichen Staffelung erhält das Verhältnis von Figur und Grund eine kritische Funktion. Solange die Figuren nur freistehend auf dem Malgrund verteilt werden, tritt der Malgrund nicht ins Bewußtsein des Malers. Das ist erst der Fall, wenn der Malgrund um die Figur herum mit Farbe gefüllt wird, oder wenn sich auf ihm die Figuren in Schichten überlagern. Diese Entdeckung gelingt meines Erachtens am leichtesten im Zusammenhang mit Muster und Ornament. Beim Ornament treten Figur und Grund oft gleichberechtigt nebeneinander oder verschachtelt ineinander auf. Es erscheint mir als eine naheliegende Idee, beim Kolorieren von Mustern räumliche Farbeffekte zu studieren. Ebenso erscheint es mir naheliegend zu sein, Helldunkel - Erfahrungen am Relief zu vermitteln. In beiden Fällen mag die ägyptische, insgesamt die afrikanische wie die griechische Kunst das historische Feld darstellen, aus dem man sich Anregungen holt.

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3. Kantenbildung
Kanten im Sinn von Richtungswechseln an plastischen Objekten treten insbesondere am plastischen Ornament deutlich in Erscheinung. In der Zeichnung taucht die Kante als Kontur / Binnenkontur auf. Was in der Plastik einen Richtungswechsel und damit verbunden einen Wechsel im Reflexionsverhalten einer Oberfläche bedeutet, das ist in der Zeichnung mit einer Kontur nur dürftig ausgedrückt. Schülern kann man das recht plausibel machen bei der Darstellung eines Quaders nach den Regeln der Parallelperspektive. Die drei sichtbaren Seitenflächen werden durch Kontur und Binnenkontur und die Winkelbildung der Linien optisch nur schwach voneinander unterschieden. Eine Tönung der Flächen in drei Stufen bringt hier größere Klarheit und Plastizität.
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Gombrich liefert hierzu eine bedeutsame Erkenntnis. "...wie schon Hogarth betonte, zeigt ein Schatten nur dann eine Form an, wenn man weiß, von welcher Seite das Licht kommt. Wo wir es nicht wissen, raten wir eben. Die Psychologen haben festgestellt, daß wir Menschen aus dem westlichen Kulturkreis automatisch annehmen, das Licht komme von links oben, solange keine gegenteiligen Anhaltspunkte vorhanden sind. Diese Beleuchtung ist am günstigsten für das Schreiben oder Malen mit der rechten Hand, und daher findet sie sich tatsächlich auf den meisten Bildern." (Gombrich S. 297) 
Der Autor liefert hierfür den Nachweis an einer H/D-Figur, die in richtiger Ansicht als Hohlform wahrgenommen wird, nach ihrem Verdrehen um 180° jedoch konvex erscheint. Die hier gezeigte Abbildung einer Schülerarbeit zeigt ein und dieselbe Zeichnung aber gedreht um 180°. Das Hirn braucht eine Weile um von einem Richtungsmodus auf den anderen umzuschalten.

Die Schüler fordern dazu meist eine Regel und es erscheint sinnvoll, diese zu geben. Bei einer Perspektive, die vom Quader die Vorderseite, den Deckel und die rechte Seitenfläche zeigt, ist ein Licht angebracht, das (vorne) links oben plaziert ist. Bezüglich der Helligkeitsverteilung ergibt das einen hellen Deckel, eine leicht getönte Vorderseite und eine abgedunkelte rechte Seitenfläche. Für das Füllen der Flächen gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, unter denen mir zwei besonders sinnvoll erscheinen: Schraffur und Lavis. Beim Lavieren mit verdünnter Beize empfiehlt es sich, die auszumalende Fläche vorher mit dem Pinsel zu feuchten und dann die Beize in einer Richtung gleichmäßig zu vertreiben. Abdunkelung erreicht man durch wiederholten Farbauftrag mit der gleichen Farbe. Die Kantenbildung erfolgt bei diesem Vorgehen wie in der ägyptischen Zeichnung erst durch Festlegung der Umrisse und dann durch Ausfüllen der Körperflächen mit Farbe.

Wer mit diesem Rezept an ein Stilleben aus Quadern nach der eigenen Beobachtung herangehen will, kann leicht feststellen, daß es vor der 'Natur' keinen Bestand hat, weil die Helldunkel - Verteilung selten so einfach ist, und vor allem, weil sich Kanten nach der Beobachtung kaum als Linien darbieten, sondern als Grenzen von Tonflächen gebildet werden.

Licht und Farbe bilden in der Malerei selten eine Einheit. Gotik und Renaissance unterscheiden zwischen der Funktion des Helldunkel als einem formgebenden Faktor und der Funktion der Farbe als Schmuck, Symbol- und Stimmungswert. Den deutlichsten Ausdruck findet diese Unterscheidung in der Schichtenmalerei, die im Tafelbild über die Renaissance hinaus Bestand hat. Rein gefühlsmäßig drängt sich mir der Verdacht auf, daß dieses Stadium in der Entwicklung des Helldunkel für das Jugendalter von Bedeutung sein könnte. Die Kunsterziehung hat dies allerdings wenig beeindruckt, weil sie lange Zeit unter den Prämissen des Expressionismus sich der 'Befreiung der Farbe' von der formgebenden Funktion verschrieben hat. Grisaille und Ton-in-Ton-Malerei haben in der Kunsterziehung bislang offenbar wenig Fürsprache gefunden.
"Die ersten Grisaillen der abendländischen Malerei sind wohl Giottos "Tugenden und Laster" in der Arenakapelle (grau in grau)." (W. Schöne S. 115) Schöne zählt hier eine ganze Ahnenreihe von Giotto über Vanni, Masaccio, Uccello, Mantegna, del Sarto im Süden und Campin, van Eyck im Norden auf, und er stellt den Zusammenhang her zwischen der Trennung von Farbe und Helldunkel in der Malerei und der Farblehre bei Alberti. "...Weiß und Schwarz sind für Alberti keine Farben."(Anm. S.116) Alberti löst sich hier von der Auffassung des Aristoteles und sieht die Aufgabe von Schwarz und Weiß darin "nicht als Farben, sondern als Ausdruckswerte von Licht und Schatten zu dienen."
 (Schöne, Anm. S.117)
Abbildungen: Faltenwurf bei Villard de Honnecourt 13. Jh. (oben) und dem sog. "Spielkartenmeister", 15. Jh
Fotografie, Film, Drucktechnik, Videokamera, Bildschirm vermitteln uns tagtäglich die Trennbarkeit von Farbe und Helldunkel. Dieser Alltagserfahrung und Bildkonvention widerspricht in gewisser Weise eine malerische Tradition, die aus dem Impressionismus kommt, und den Versuch unternimmt, Licht und Schatten als Erscheinungsweisen der Farbe zu deuten. Der Farbfleck wird im impressionistischen Bild zu einer Lichtquelle

"Die Farbe ist nicht mehr, wie in der gesamten abendländischen Malerei vom Mittelalter bis zum Impressionismus, eine Funktion des Lichts, - sondern umgekehrt: das Licht ist zu einer Funktion der Farbe geworden."
( Schöne, S.200) 
Es scheint also, daß ein Teil der Malerei seit dem Impressionismus sich zunehmend auf die eine Sichtweise als die "künstlerische" versteift, Farbe und Licht aus der darstellenden Funktion entläßt, während ein anderer Teil beim Realismus bleibt und der Bereich der elektronischen, fotografischen und drucktechnischen Bilderzeugung im Dienst einer Darstellung der dinglichen Welt am Prinzip der Trennbarkeit von Farbe und Helldunkel festhält. Es liegt in der Konsequenz einer die Farbe befreienden Malerei, daß sie auf gegenständliche Darstellung verzichtet, weil die dingliche Welt das Licht braucht, um in Erscheinung zu treten.
"Unsere Wahrnehmung fester Körper ist ausschließlich Sache der Erfahrung. Wir sehen nichts als Farben in der Fläche. Und nur durch eine Reihe von Experimenten kommen wir darauf, daß ein schwarzer oder grauer Fleck die dunkle Seite eines festen Körpers ist oder daß eine schwache Färbung ein Anzeichen dafür ist, daß der betreffende Gegenstand weit weg ist." 
(Ruskin, zitiert in Gombrich S. 325)
Dieses hier zum Ausdruck gebrachte Verständnis von Wahrnehmung kommt schon zum Ausdruck in der Constable zugeschriebenen Äußerung, man müsse sich in der Malerei befreien von allem, was man über Malerei wisse, und es kommt zum Ausdruck in der bewundernden Äußerung, die Cezanne über Monet gemacht haben soll. "Monet n'est qu'un oeil - mais quel oeil!".
Gombrich erteilt dem auch in die Theorie der Kunsterziehung eingegangenen Wunsch nach einem unbefangenen, reinen Sehen eine deutliche Absage: 
"Niemals hat jemand je eine rein visuelle Sinnesempfindung gesehen, selbst die Impressionisten nicht, die sich die größte Mühe gaben, sie zu erhaschen." 
(Gombrich S. 327) 
Dabei geht es ihm um die Feststellung, daß unsere Wahrnehmung stets einen Weg sucht zwischen Erlerntem und Erlebtem, zwischen Konvention und eigener Erfahrung.
 "...dieses Ideal der reinen voraussetzungslosen Beobachtung, das der Theorie der Induktion zugrunde lag, hat sich in der Wissenschaft ebenso wie in der bildenden Kunst als illusorisch erwiesen. Die moderne Wissenschaftslehre hat an der Idee, daß es möglich sei, unbeeinflußt von jeder Erwartungsvorstellung drauflos zu beobachten, scharfe Kritik geübt. Karl Popper betonte, daß wir nicht imstande sind unseren Geist gleichsam in ein unbeschriebenes Blatt zu verwandeln,"..."sondern daß jede Beobachtung eine Frage voraussetzt, die wir an die Natur richten, und daß jede solche Frage eine vorläufige Hypothese in sich schließt..."
(Gombrich S.353)
Wir müssen also im Unterricht eine Situation herbeiführen, wo gewisse Hypothesen auf ein Interesse der Schüler treffen und damit auf ihre Bereitschaft, sie auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen.
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3. Kantenbildung und Kontrast

Schüler beginnen ihre gegenständlichen Zeichnungen in der Regel mit dem Festlegen von Kontur und Binnenkontur. Helldunkel tritt dann in Form mehr oder weniger kontrollierter Schraffuren hinzu. Wie oben bereits erwähnt, treten dabei Widersprüche auf, weil es im System des Helldunkel die Kontur als dunkle , freistehende Linie nur im Ausnahmefall gibt. Im Alter von 16 Jahren fällt dies nicht allen Jugendlichen als Problem auf. Einige sind daraufhin ansprechbar. Eine mit Körperschatten ausgestattete gegenständliche Zeichnung darf an der Kontur nicht einfach aufhören, sie muß den Körperumriß in Unterscheidung zum Umraum des Körpers definieren. Dadurch werden in der Regel Umrißlinien in die Schraffur einbezogen oder gehören plötzlich auch nicht mehr zum Objekt, sondern zu einem dunklen Hintergrund.

Wer mit dem Helldunkel konsequent in einem visuellen Sinn arbeitet, muß Schluß machen mit einer taktilen Vorstellung vom Umriß. Das ist erkenntnistheoretisch der entscheidende Schritt. Nach dem Gesichtspunkt des Helldunkel unterscheiden sich Figur und Grund nicht mehr durch tastbare Grenzen sondern allein durch sichtbare Kontraste, die letztlich durch Beleuchtung und Reflexion gebildet werden. Das Auge wird nun vom Wahrnehmenden nicht mehr als Ersatz des Tastsinns gebraucht, sondern muß abgekoppelt von der taktilen Erfahrung die Dingwelt auf ihr Reflexionsvermögen hin betrachten. Das kann man nicht einfach naturgegeben und lernt es auch nicht von heute auf morgen. Vielmehr bedarf es wie die perspektivische Darstellung einiger Übung. Das Medium Fotografie kann hier dem Gehirn die benötigte Hilfestellung geben und ihm sagen, was das Auge sieht: 
Eine Konfiguration von mehr oder weniger kontrastierenden Flecken, die im Gehirn zu Formen zusammengefaßt und getrennt werden. Die Fotografie kann die Flecken trennen, indem sie die Kontraste verstärkt, die Farbe auf ihren Helldunkel - Anteil reduziert. Der Maler kneift in Ermangelung eines steuerbaren Kontrastreglers die Augen zusammen. Dabei reduziert er den von der Abbildung in Anspruch genommenen Bereich der Retina auf den Kernbereich um die Fovea, die Zone, in der die Zellen für die Helldunkel - Wahrnehmung, die Zapfen überwiegen.
 

Abbildungen: Die Zeichnungen stammen aus dem Oberstufenunterricht und übersetzen eine Aquatinta von Goya in lavierte Federzeichnungen

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Um die dem alltäglichen Sehen verborgene Helligkeitsverteilung zu erfassen,
 "muß der Maler die Farben 'undinglich' sehen, er muß die Dinge 'auflösen'."(Metzger S.317)
Das Sehen von Licht und Schatten braucht Hilfsmittel, wie der Stich von Veneziano "Akademia Bandinelli" zeigt. In Bezug auf die Helldunkel - Wahrnehmung muß man dem Gehirn erst einmal abgewöhnen, Farben zu sehen, der Bleistift wird zum Auge, das die Dunkelheiten erfaßt. Aber damit ist es nicht getan. Weiß, also Licht, darf nicht aus der Wahrnehmung ausgeklammert werdenWer mit dem Bleistift die Dinge abtastet, sucht nur nach den Schatten. Die Schüler müssen aber lernen auch nach den Lichtern zu suchen. Im Rahmen der Zeichnung, wie der Malerei, leistet dies in erster Linie die 'Höhung'. Diese einfachste Form der 'Auflösung' trennt die Lichter von den Schatten und braucht dazu die Erfahrung, daß man Helligkeiten auch bezeichnen kann und muß. Es ist im Rahmen der "Tontrennung" eine ganz eigene Erfahrung, daß aus einer Konfiguration eigenartig geformter Flecken verschiedener Helligkeit vor unseren Augen Gebilde entstehen, in denen wir bekannte Dinge wiedererkennen, die wir so noch nie wahrgenommen haben. Die Tontrennung wird damit zu einer ganz elementaren Wahrnehmungsübung, die zum Linolschnitt, zur Plakatgestaltung, zur Spritztechnik, zum Siebdruck führen kann.
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4. Verlaufbildung und Auflösung

Metzger spricht im Zusammenhang mit dem 'reinen Sehen' von "Auflösung der Dinge". Für ihn beginnt dies historisch mit dem Impressionismus. Mir stellt sich der Impressionismus dar als eine Umkehrung des Wegs, den die Renaissance beschritt, als sie aus dem mittelalterlichen Symbol- und Schmucklicht das Beleuchtungslicht herauslöste. Der Impressionismus nimmt das Beleuchtungslicht zurück. In der Malerei des 20.Jhs (Matisse, Braque, Picasso, Kirchner, Schmidt-Rottluf, Klee, Nay) gibt es 
"kein Beleuchtungslicht mehr, sondern Licht und Schatten sind zur Farbe geworden, desgleichen gehören Schwarz und Weiß zur Farbenskala und drücken nicht mehr Licht und Finsternis aus."
(Schöne S. 200)
Die farbigen Lichtpunkte der impressionistischen Malerei scheinen mir die Idee des Bildschirms vorwegzunehmen, und das in einer Zeit, in der die Glühlampe noch nicht zur Alltagserfahrung gehört. Das impressionistische Bild tut so, als seien seine Bildpunkte Lichtquellen, was natürlich nicht der Fall ist. Gleiches gilt für den gerasterten Mehrfarbendruck. 

Das impressionistische Auge löst die gegenständliche Welt, die sich ihm über Farbreize vermittelt, in anderer Weise als das Auge der Renaissance. Leonardo rechnete Schwarz und Weiß nicht zu den Farben:

 "Das Eine ist Finsternis, das Andere Licht, d.h. das Eine ist Entziehung (der Farbe), das Andere Erzeugung (der Farbe)." 
(Leonardo zitiert bei Schöne S.208)
Ich suche nach dem Lösungsmittel. Welche zeichnerischen und malerischen Konventionen gibt es für die Auflösung des Lichts?
Bei den Ägyptern scheint der Verlauf von Hell nach Dunkel, von einer Farbe in die andere, nicht vorzukommen. Die "malerische" Wirkung vieler Werke verdankt sich eher den Spuren der Alterung und Verwitterung als malerischer Zielsetzung. Trotzdem hat die oben beschriebene Annäherung von Farbfläche und farbigem Umriß ebenso wie die tonige Stufung im Fall einer räumlichen Staffelung, optisch eine dem Verlauf vergleichbare Wirkung.

Was die ägyptische Zeichnung und Malerei allem Anschein nach nicht anstreben ist im Relief allerdings wahrnehmbar vermittelt: Der Meißel des Bildhauers gräbt den Umriß der Figur als Vertiefung in den Stein und rundet diese Gräben zum Körper hin weich verlaufend ab, während nach außen eine harte Kante stehen bleibt.

Mir drängt sich hier ein Vergleich auf zur malerischen Technik der Lavierung, die ich bei Villards Musterbuchzeichnung (S.6) so vermute: Der mit Feder und Tusche gezogene Umriß ist nach dem Trocknen der Zeichnung durch einen feuchten Pinsel nach der Innenseite der Figur hin angelöst und verwaschen. 

"Die Technik der Lavierung ist bei den Musterblättern des hohen Mittelalters verbreitet, ja vorwiegend, wie ich bei dem Wolfenbütteler Musterbuch nachweisen konnte. Jene Zeit, die den Schattenstrich noch kaum kannte und verwandte, mußte ja vor plastischen Aufgaben nach einem modellierenden Zeichnungsmittel suchen." 
( Hahnloser, Villard de Honnecourt, Graz 1972, S.60)
Eine vergleichbare Aufweichung, "Verflüssigung" von Körperumrissen kann man in Zeichnungen des Jugendalters finden, wobei der weiche Bleistift meist mit dem Finger "verwischt" wird. Manche Schüler lieben diesen Effekt ganz außerordentlich und lassen sich von Lehrern kaum davon abhalten. Gelegentlich wird an Stelle einer einfachen Kontur eine Art Schraffur "aufgetragen", um mehr verwischbare Farbe zur Verfügung zu haben.

Die Renaissance entwickelt die Schraffur (in der Malerei, in Zeichnung und Kupferstich) zu einer variantenreichen linearen Zeichensprache und übersetzt die Technik der Lavierung in die Tonflächen des Clair/Obscure-Holzschnitts. 

Die Schraffur stellt einen Übergang dar vom taktilen zum visuellen Verständnis der Modellierung. In der mittelalterlichen Zeichnung kommt die Schraffur ausgesprochen selten vor. In der Buchmalerei heftet sie sich gelegentlich an die zeichnerische Darstellung von Gewandfalten. Mir drängt sich die Ansicht auf, daß die Idee der Modellierung auch ohne die Beobachtung eines Beleuchtungslichts auskommt. Begrifflich taucht das "Rilievo" bereits bei Cennini im Zusammenhang mit dem Gedanken einer einheitlichen Lichtführung in der Malerei auf. Interessanterweise ist für die Renaissance der Schatten nicht etwa ein Aspekt des Disegno, sondern des Colorire. 

"Zum colorire gehören der Pinsel, Schattierungen, die Darstellung der Oberflächen, relievo; zum disegno gehören der Stift, Linien, die Darstellung von Rändern, Perspektive."
( Baxandall, "Die Wirklichkeit der Bilder", Frankfurt 1980, S.170). 
"Wie du deinen Figuren das System der Beleuchtung, Licht oder Schatten geben sollst, indem du sie mit einem System des rilievo ausstattest: Wenn du in Kapellen oder an anderen schwierigen Orten zeichnest oder malst, wo du die Beleuchtung nicht nach deinen Absichten einrichten kannst, dann gib deinen Figuren oder dem Entwurf das rilievo in Übereinstimmung mit der Anordnung der Fenster, denn sie sorgen für die Beleuchtung in dem Raum. Und indem du so der Beleuchtung folgst, von welcher Seite sie auch immer kommen mag, setze dein rilievo und den Schatten nach diesem System ein...Und wenn das Licht durch ein Fenster stärker einfällt als durch die anderen, dann richte dich immer nach diesem helleren Licht; und du solltest es systematisch studieren und verfolgen, denn wenn dein Werk darin fehlt, wird es kein rilievo haben und sich als schlichtes Ding von geringer Meisterschaft erweisen."
Cennino Cennini, "Il libro dell' arte" um 1400, zitiert aus Baxandall, "Die Wirklichkeit der Bilder", S. 149
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Einen 'Erfinder' der Schraffur findet man in der Literatur nicht, aber wenn man einen zeichnerischen Anlaß suchte, der die Erfindung der Scharaffur nahegelegt hätte, dann wäre dieser in meinen Augen gegeben gewesen durch die Aufgabe Haar oder Fell in der Zeichnung darzustellen. Von Pisanello kennt man die Zeichnungen von Pferdeköpfen (Kodex Vallardi, um 1435) mit Feder auf Papier ausgeführt, für die die Schraffur hätte erfunden werden müssen, wenn es sie nicht bereits gegeben hätte. Ein eigenartiger Schwebezustand macht die feinen Strichlagen gleichzeitig zu Haaren und Modellierungen der Körperoberfläche. Wenn man nach einem technischen Anlaß sucht, der die Entfaltung der Schraffurtechnik verlangte, dann war es eher die Feder, der Silberstift und der Stichel, die zur Schraffur führten als Kohle und Kreide, die man eher breit und flächig aufträgt.

Insbesondere die Drucktechnik beförderte in der Renaissance eine Kultivierung der Schraffur. Erstens, weil sie die Auflösung der Gegenstände in druckbare Bildelemente voraussetzte und zweitens, weil sie durch die Verbreitung der Musterzeichnungen das Übungsmaterial lieferte, an dem sich Generationen von Lernenden übten. 

Mir scheint, daß die Schraffur historisch nahezu gleichzeitig zwei Tendenzen ausbildet: 
Als Modellierung und Formlinie folgt sie in ihren Windungen den plastischen Erhebungen und Vertiefungen der Oberfläche, die sie bezeichnet. Dazu ist sie gedanklich der Schnittlinie verbunden, die bei einem ebenen Schnitt durch den Körper entstehen würde. Durch An- und Abschwellen (Taille) verbreitert sie den Schwarzanteil gegenüber dem weißen Zwischenraum der Linien oder verschmälert ihn. Zweierlei Schnittlinien lassen sich am Modell des Zylinders unterscheiden: Solche, die quer zur Höhe verlaufen und damit der Rundung als Formlinien folgen, und solche, die längs zur Höhe als radiale Schnitte sich perspektivisch nach außen verdichten, wie die Kannelierungen einer Säule. 

Als Schattierung und Parallelschraffur bleibt sie der Plastik gegenüber indifferent und bezeichnet lediglich Dunkelheit durch Verengung der weißen Zwischenräume und sich kreuzende Lagen, die die hellen Zwischenräume punktförmig einschließen. Ein differenziertes Helldunkel verlangt nach beiden Formen.
Abbildung: Nanteuil/Bosse Projektionsvorrichtung zur Erzeugung von Formlinien, aus Frieß, "Kunst und Maschine", München, 1993

Wie erklärt man Schülern die Idee der Formlinie? Aus einem Bauhauskatalog von 1968 habe ich mir von Kurt Kranz eine Aufgabe geliehen, die ich "zersägte Jungfrau" (Siehe Abb. S. 13) nenne: Eine figürliche Fotografie aus einer Illustrierten soll in horizontalen und vertikalen Schnitten 'zersägt' werden. Die Schnittlinien werden mit dem Bleistift leicht angezeichnet. Dann schneidet man mit der Schere an ihnen entlang, klebt die entstehenden Einzelteile leicht versetzt so auf ein Papier, daß man in die entstehenden Zwischenräume die Schnittflächen ergänzen kann.

Ebene Schnittlinien an einem Körper kann man leicht dadurch veranschaulichen, daß man ihn in ein Gefäß mit Wasser taucht. Die Wasseroberfläche bildet eine Ebene und umschließt den eingetauchten Körper an einer ebenen Schnittlinie. An Bändern, Schläuchen, Geflechten, Draperien lassen sich solche Schraffurübungen gut durchführen. Die Bildhauer kennen solche Verfahren schon lange. Winckelmann beschreibt unter Berufung auf Vasari eine Methode Michelangelos zur Übertragung der plastischen Formen des Modells auf die Skulptur mittels Schnittlinien, die er im Wasserbad erzeugt. (Winckelmann, "Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst" Stuttgart 1969, S. 29)

Die Verfeinerung der Schraffurlinie führt schon in der Renaissance zur Punktierung, und doch dauert es bis zur Mitte des 19.Jhs, bis daraus über den Umweg der Aquatinta, der Schabkunst, ein universelles System wird, das Druckraster.

Meisenbach heißt der Erfinder und Autotypie (Selbstdruck) nennt sich die Erfindung, die er 1881 anmeldet. Das Bildraster erweist sich in der Folge als universelles Lösungsmittel für Bilder nicht nur in Helldunkel sondern auch in Farbe. Ein beliebig fein zu denkendes Gitter aus sich rechtwinklig kreuzenden feinsten Linien löst die Bildfläche auf in winzige Flächenelemente, deren Helligkeit oder Dunkelheit durch die Größe eines weißen oder schwarzen Punktes unterschiedlicher Größe ausgedrückt wird. Niemand muß nun mehr die Sklavenarbeit der Lithographen oder Neoimpressionisten verrichten. Das erledigt jetzt die Fotografie. 

Georg Meisenbach, Kupferstecher aus Emmering bei München, findet Nachahmer und Verfeinerer seiner Erfindung. So den Amerikaner Ben Day, der 1878 Erfolge hat mit einem mechanisierten Verfahren zur Reproduktion kolorierter und im Helldunkel differenzierter Strichvorlagen. Das Ben Day Rapid Shading Medium besteht aus einem transparenten Gelatinefilm, der auf einer Seite mit Punkten oder Texturen bedruckt ist, die sich durch Abreiben auf einen beliebigen Bildträger übertragen lassen (bei uns bekannt als Abreibefolie von Letraset). Die "Ben Day Dots" übertrugen die Ästhetik des maschinellen Autotypieverfahrens in den Bereich zeichnerisch - grafischer Druckvorlagen. Roy Lichtenstein beutet Ben Days Erfindung künstlerisch aus.

Bei der Autotypie drückt sich der Helligkeitswert eines Rasterfeldes aus durch den prozentualen Anteil des schwarzen Rasterpunktes an der Größe des Rasterfeldes. Bei entsprechend feiner Auflösung (bis zu 80 Linien pro qcm = 6400 Rasterfelder auf jeden qcm) lassen sich damit nicht nur Helligkeiten, sondern feinste Oberflächencharakteristika wiedergeben. 
 
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Chuck Close liefert in seinen Zeichnungen eine ganze Reihe -wie mir scheint- sinnvoller Anwendungen und Aufgabenstellungen zum Thema Auflösung. In einer 11. Jahrgangsstufe habe ich eine Aufgabenreihe durchgeführt, deren Ausgangspunkt ein Portraitfoto von jedem Schüler war. Zunächst erklärte ich das Prinzip der Tontrennung und ließ jeden Schüler nach seiner Fotografie eine Tontrennung in drei bis vier Grautönen durchführen. Daran anschließend ließ ich die Zeichnungen mit Hilfe eines Quadratrasters vergrößern. In einem nächsten Schritt wurden die Graustufen der Tontrennung in Rasterpunkte übersetzt, wofür mehrere Lösungen zur Wahl standen: Schwarze Punkte unterschiedlicher Flächendeckung, Fingerprints, die je nach Grauton einfach oder mehrfach übereinandergedruckt wurden, oder Schraffuren, die je nach Dunkelheit in einer oder mehreren Lagen zu ziehen waren. Die Erkenntnis ist stets auf den Nenner zu bringen: der bildhafte Eindruck eines Gesichts bis hin zu einer guten Identifizierbarkeit kann beruhen auf einer Konfiguration von Flecken unterschiedlicher Helligkeit.

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Zur Mythologie des Schattens

Adalbert von Camisso schreibt 1813 die Novelle "Peter Schle-mihls wundersame Geschichte" über einen Mann, der seinen Schatten an den Teufel verkauft. 
Plinius führt die Erfindung der Malerei darauf zurück, daß ein Mädchen den Umriß des Schattens ihres Geliebten an der Wand nachgezogen hätte. 
Licht und Schatten stehen in der christlichen Mythologie für Gut und Böse. Apostelgeschichte 5,15 erzählt die Geschichte von Petrus' Schattenheilung. Petrus heilt im Vorübergehen einen Lahmen, indem sein Schatten auf ihn fällt. (Dazu Masaccio "Schattenheilung")
Alexander ließ seinen Schatten auf Diogenes fallen, der sich nichts dringlicher wünschte als "geh' mir aus der Sonne!" 
Der Schlagschatten wird in den alten Kulturen magisch aufgeladen und animistisch beseelt. Die Griechen bezeichnen die Unterwelt als Schattenreich. Für die Ägypter ist der Schatten eines der drei materiellen Elemente des Menschen (Leib, Name, Schatten). Mit dem Tod verläßt der Schatten den Körper. Er wird als eigenes Wesen angesehen, eine wandernde, unvergängliche Seele. 
Schatten, Echo, Spiegelbild, Bildnis, Fotografie bleiben bis heute zutiefst solchen magisch - mythologischen Vorstellungen verbunden. Der Schatten kann einem vorauseilen, wie im Western dem Gunman, oder er kann einem folgen, jemanden verfolgen.
Aus ältester Zeit stammt die Vorstellung, daß der Schatten Schwarz ist. Die Entdeckung des farbigen Schattens wird mit Delacroix in Verbindung gebracht, war allerdings Leonardo bereits bekannt.
Koschatzky weiß zu berichten, "daß der japanische Künstler, einem alten, aus China stammenden Kunstdogma zufolge, keine Schatten zeichnen darf." ( Die Kunst der Graphik, S. 63) Andererseits gibt es im chinesischen Kulturraum eine alte Tradition des Schattenspiels. 
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Literatur:
Michael Baxandall, "Die Wirklichkeit der Bilder - Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jhs.", Frankfurt 1980
Forman-Kischewitz, "Die altägyptische Zeichnung", Hanau 1971
P. Frieß, "Kunst und Maschine", München 1993
Ernst H. Gombrich, "Kunst und Illusion", Stuttgart, 1978
Hans R. Hahnloser, "Villard de Honnecourt", Graz 1972
Wolfgang Metzger, "Gesetze des Sehens", Frankfurt 1975
Wolfgang Schöne, "Über das Licht in der Malerei", Berlin 1994
Ernst Strauß, "Zu den Anfängen des Hellunkels", Hefte des kunsthistorischen Seminars der Uni München, Heft 5, 1959
Boekhoff/Winzer, "Das große Buch der Graphik", Braunschweig 1968