Unterrichtssequenz zum Lernbereich Körper

2. Marcel Duchamp: Nu descendant un escalier - Bildanalyse

von Uli Schuster 2008

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Der neue Lehrplan für die Oberstufe des G8 in Bayern sieht in 11.1 eine Auseinandersetzung mit dem Themenfeld "Körper" vor. Die nachstehende Unterrichtssequenz möchte in vier abgeschlossenen Einheiten ein Beispiel geben, das diesem Anspruch gerecht zu werden versucht. Die Unterrichtssequenz ist auf vier getrennte Adressen verteilt, die entweder direkt angesteuert werden können oder oben im Kopf dieser Seite über die Kapitelüberschriften erreichbar sind.

I. An wichtigen Positionen der sich entfaltenden Moderne wird in einer ersten Einheit ein künstlerischer Diskurs innerhalb der Gattung Plastik dargestellt, der für diese Epoche bezeichnend ist. Anhand von Skulpturen und Plastiken, die um die Jahrhundertwende entstanden, kann beispielsweise die Vorstellung von der Einzigartigkeit des Kunstwerks kritisch beleuchtet werden.

II. In einer zweiten Einheit wird, wie bisher in der Oberstufe auch, die Werkanalyse erprobt, und zwar exemplarisch am besten an einem Schlüsselwerk. Auf der Basis einer Formanalyse wird ein Gemälde untersucht in Bezug auf seine flächige und räumliche Bildordnung sowie auf Licht / Farbe und die Ordnung von Bildobjekten, soweit sie sich als solche noch zu erkennen geben. 

III. Schließlich stellt eine dritte Einheit Bezüge her zu aktuellen Körperdiskuren in neuerer Kunst und in der Alltagsästhetik.

IV. Jede dieser Einheiten kann einen eigenen Bezug zu einer bildnerisch-praktischen Aufgabe herstellen, weshalb die vierte Einheit in dieser Reihe auch nur ein Beispiel sein kann, wie sich in die vorhergehenden Reflexionen und Übungen eine entsprechende Arbeit einreihen kann.


II. Akt, eine Treppe herabsteigend

A) Erster Eindruck
Wie bei vielen kubistischen Bildern aus der Zeit um 1910 nehme ich erst einmal eine Art Scherbenhaufen wahr, in dem sich einzelne Bereiche zu mehr oder weniger deutlichen gegenständlichen Gebilden formen. Der hilfesuchende Blick befragt dann erst einmal den Titel, den man hier ausnahmsweise einmal ins Bild integriert findet. Wenn man des Französischen mächtig ist, dann orientiert sich die weitere Suche an drei Bestandteilen dieses Titels. Ein Akt - herabsteigend - eine Treppe. Am augenfälligsten ist mir die Bewegung in einer diagonalen Richtung von links oben nach rechts unten.

B) Formanalyse
Der methodische Zweck der Übung liegt hier schwerpunktmäßig auf der Unterscheidung flächiger, räumlicher, farblicher und gegenständlicher Aspekte des Bildes. Eingeübt wird ein Sprachgebrauch fachlicher Terminologie mit dem die bilderischen Mittel möglichst klar voneinander getrennt und benannt werden können. Neben der schriftlich-verbalen Arbeit geht es hier auch darum in Bildauszügen, Diagrammen, Studien, grafischen Darstellungen ein Repertoire an Möglichkeiten aufzuzeigen. Für diesen Lernbereich sind zeichnerische, malerische Fertigkeiten zu trainieren oder können die Möglichkeiten der Bildbearbeitung genutzt werden. Beispiele dazu können im KUSEM unter folgender Adresse studiert werden: http://www.kusem.de/lk/komp2/ko2set.htm

B 1) Ordnung der Bildfläche
Die Bildfläche ist ein sehr schlankes Hochformat über das sich in einem breiten diagonalen Streifen eine Bewegung von links oben nach rechts unten ausbreitet. Dieses hell gehaltene Mittelfeld ist gerahmt durch eine dunklere Zone an den Bildrändern und verstärkt in den Bildecken re.o und li.u. Während das ‚mittlere Bildfeld‘ vom Bewegungsmotiv der Figur beansprucht wird, ist der ‚Rahmen‘ dem Motiv Treppe vorbehalten. Die Bewegung der Figur erscheint aufgelöst in eine Vielzahl flächiger und linearer Formen die durch ihre Lage im Bild, durch runde oder eckige Formcharakteristik, durch ihre Größe und ihren Bezug zueinander sowie eine rhythmische Reihung auf absteigenden Bilddiagonalen von li.o nach re.u. eine gewisse Ordnung und figurative Formsymbolik bilden (ausgeführt unter d). Entsprechend der Bewegungsrichtung der Figur nimmt die Größe der Formstücke nach re.u. zu und damit die Länge und Dichte der Linien. Linien selbst sind vielfach begrenzende Konturen von Flächenstücken, wiederholen diese Begrenzungen aber auch oft parallel dazu oder in leicht abweichenden Winkeln wie eine Art „Bewegungsecho“ einer Form. Darüber hinaus finden sich z.B. im Bereich der Beine auch Linien, die als Kreisbögen winkelige Bewegungen symbolisieren. Solche Bewegungsspuren sind manchmal dunkel, stellenweise auch hell oder verwischt, in der Bildmitte auch hell gepunktet. Einige Schwünge haben an ihrem Ende einen auffälligen Punkt wie um den Schwung damit abzubremsen. Die Charakteristik der Lineatur unterliegt in der Bewegungsrichtung der Figur einem Wandel. Li.o wirken sie freier, wie schnell gezogen, nach re.u. sind sie mehr gestrafft und geometrisch/technisch klar.

B 2) Ordnung des Bildraums
Die figurativen Gebilde sind zusammengesetzt aus Flächenstücken, die sich oft übereinanderschieben, von andersfarbigen oder -geformten Stücken überlagert sind, manchmal an einer scharfen Kante enden, manchmal an einer dunklen Umrisslinie, gelegentlich sich aber auch so über ein anderes Formstück schieben, dass sie entweder einen Schatten zu schlagen scheinen oder ein dahinter liegendes Formelement transparent durchscheint. Dieses Spiel mit sich überlappenden Flächenformen bewirkt die räumliche Suggestion der flachen Schichtung eines Stapels oder Gewebes. Näher besehen ist die räumliche Logik nicht durchgehalten, ist sie weniger Illusion als Suggestion. Ähnliches kann über einen anderen raumbildenden Faktor gesagt werden: Während die Figur am Ende ihrer Bewegung fast die ganze Bildhöhe beansprucht, vermittelt sie li.o. den Eindruck kleiner zu sein. Zumindest sind dort Länge und Form der Beine undeutlicher ausformuliert. Daraus kann der Eindruck entstehen, dass die Bewegung auf der Treppe nicht nur parallel zur Bildebene gesehen werden soll, sondern auch aus einer gewissen Tiefe nach vorne geht. Einige Schüler nehmen wie ich auch die Figur aus einer tiefliegenden Betrachterposition wahr. Das mag daran liegen, dass die rekonstruierbare Endposition der Figur wie ein perspektivisch verzerrtes Verhältnis von langen Beinen zu einem stark verkürzten Oberkörper erscheint.
Während das Bild im Bereich der Figur, also im gesamten Mittelfeld eine sehr flache Schichtung suggeriert, entsteht in den Bildzwickeln durch die Treppenmotive eine Suggestion von Tiefe insbesondere dadurch, dass erhebliche Größenunterschiede eine Assoziation mit Entfernung hervorrufen. Die größten Stufen, die in etwa mit der Körpergröße der vordersten Figur korrespondieren und auch in ihrer Profilansicht mit der Bewegungsrichtung von links nach rechts in Zusammenhang gesehen werden können, finden sich am unteren Bildrand. Knapp daneben im li.u. Bildeck eine Art Schrägbild von drei Stufen, viel zu klein für eine Figur mit der gegebenen Größe. Oben am linken Bildrand und im rechten oberen Bildeck erkennt man treppenartige Gebilde, die ebenfalls viel zu klein sind um einer realen Architektur eines Treppenhauses zu entsprechen, die aber durch die Verkleinerung ohne perspektivische Logik eine Suggestion von Raumtiefe erzeugen können und vielen Schülern einen Eindruck von „Hintergrund“ vermitteln. Die geradezu surrealen Blickwechsel dieser Versatzstücke von Treppen und Stufen kann man auch interpretieren als bildfüllende Idee von Treppe, die sogar übergreift auf die Figur selbst etwa nach dem Denkmuster: <Wer sich auf einer Treppe bewegen will, der muss sich der Form und Idee der Treppe unterwerfen und wird so selbst zu einer Art Treppenwesen>.

B 3) Farbordnung und Bildlicht
Das Bild arbeitet mit einer sehr reduzierten Palette im warmen Farbbereich zwischen Gelb und Braun. In diesem engen Spektrum liegen viele Zwischentöne (Valeurs). Ein kräftiger Gelbton belegt von li. nach re. wachsende Flächenanteile der Figur und gibt insbesondere der vordersten Figur eine Art technischen Glanz, etwa wie Messing. Damit entsteht auch die Wirkung einer scheinwerferartigen Beleuchtung der Figur von rechts, ohne dass eine Lichtquelle im Bild auszumachen ist. Wie auch das bereits angesprochene grünlich-braune Dunkel des Bildrandes wird Licht damit auch zu einem raumbildenden Faktor. Der technische Glanz glatter Oberflächen verstärkt die flache Geometrie der Körperteilformen und rückt den Titel „Akt“ in ein verfremdendes Licht, das die Figur in die Nähe eines Roboters oder einer Gliederpuppe rückt. Nur wenige Teilflächen der Figur besitzen eine Art Hautton. Dunkelbraune, fast schwarze Kanten begrenzen die hellen Flächen oft sehr stark kontrastierend. Auch wenn der Farbauftrag insgesamt flächig wirkt, gibt es neben homogenen Farbflächen auch Farbverläufe und a einigen Stellen den Eindruck von Transparenz, wenn sich Farbflächen übereinander schieben. Manche dunklen Zonen in der Bildmitte entlang der runden Beckenformen wirken wie Schlagschatten und unterstreichen wieder das Gefühl einer flachen Schichtung der Facetten. Eine Modellierung zur Erzeugung zylindrischer oder kugeliger Rundformen stelle ich nicht fest, auch die „Kugel“, die am rechten Bildrand das Versatzstück eines Treppengeländers abzuschließen scheint, wirkt eher flach wie ein Kreis. Die Bildoberfläche erscheint in der Reproduktion glatt, die Farbe dünn aufgetragen, ‚Handschrift‘ wird weitgehend vermieden. Ein dynamisch-expressiver Duktus zeigt sich aber in manchen Linien, vermehrt am Beginn der Bewegung oben links, wo sie stellenweise wie schnelle Pinselhiebe wirken und öfter auch unscharf verwischen.
 

B 4) Ordnung der Bildgegenstände
In rudimentären Formzusammenhängen lässt sich das bewegte Bildmittelfeld als Bewegungsspur einer menschlichen Gestalt deuten, etwa im Sinn einer mehrfach belichteten Fotografie. In den dunkler gehaltenen Bildzwickeln re.o. und li.u. sind hingegen Formgebilde auszumachen, die vom Motiv Treppe und Stufe abstammen ohne dass auch ihnen etwa ein konstruktives architektonisches Konzept etwa ein Treppenhaus ablesbar wird. Damit scheint lediglich der Bildtitel symbolisch erklärt: „Akt, eine Treppe herabsteigend“. Die Rede von der ‚menschlichen Figur‘ bedarf einer Erläuterung: Die als Akt bezeichnete Figur wird am deutlichsten am Ende der Bewegung kurz vor dem rechten Bildrand (Rollover!). Kein geschlossener Umriss klärt die Körperform, keine Details geben Hinweise auf ein Geschlecht, Alter, Charakter, Individualität einer Person. Die Körperform ist nur indirekt zu erschließen aus Teilformen, die einen figurativen Zusammenhang bilden, wie etwa die Kegel und Zylinder an Modellfiguren (Manicini), wie sie gelegentlich als Zeichenhilfen Verwendung findet. Hier allerdings sind die Teilformen aus flächigen und linearen Elementen gebildet, wirken auch eher wie Formsplitter, Segmente von Ellipsen oder Keilformen. Formstücke für Hände und Füße sind nicht auszumachen, aber ein zum Oberkörper nach vorne geneigter Kopf, Brust und Rumpf, das Becken und gewinkelte Arme und Beine ergeben die Idee von Phasen einer Bewegung, die sich als Herabsteigen durchaus lesen lassen. Keine dieser Teilformen ist ganz klar umrissen, ist etwa als geometrische Flächenform klar zu bezeichnen.

C) Kontext I:

Bilder bringen Bewegung in die Kunst
Duchamps Gemälde nimmt als Werk eine Zwitterstellung ein zwischen Futurismus und Kubismus. Tomkins weiß darüber zu berichten, dass Duchamp das Bild 1912 zum Salon des Indépendants einreichte, den eine Gruppe um Gleizes und Metzinger für einen Großauftritt ihres "vernünftigen Kubismus" nutzen wollten. Dieser Gruppe erschien Duchamps Gemälde...
 
 "als Verspottung der kubistischen Ästhetik; zudem dachten sie es stehe vom Geist her einigen der futuristischen Gemälde viel zu nahe, die einen Monat zuvor.. in der Galerie Bernheim-Jeune gezeigt worden waren.(Mit ihren dezidierten Attacken auf die Kubisten als akademische Künstler, die sich von der Tradition lähmen ließen, sorgten die Futuristen in Paris für erheblichen Aufruhr; daß sie obendrein auch noch kubistische Techniken übernahmen, setzte Beleidigung auf Demütigung.) Gleizes und Metzinger kamen jedenfalls zu dem Schluß, daß das Bild des jüngsten Duchamp-Bruders dem Anliegen des vernünftigen Kubismus abträglich sein würde, und ihre Argumente überzeugten offensichtlich auch andere in der Gruppe. Jacques Villon und Raymond Duchamp-Villon wurden delegiert, um ihrem Bruder das mitzuteilen. Förmlich mit schwarzen Anzügen wie zu einer Beerdigung bekleidet, suchten sie ihn am Tag vor der offiziellen Eröffnung des Salon in seinem Atelier in Neuilly auf. <<Die Kubisten finden, daß es ein wenig daneben ist>>, so sagten sie laut Duchamps Erinnerung zu ihm. <<Könntest Du nicht wenigstens den Titel ändern>> Sie meinten es sei ein zu literarischer Titel, im schlechten Sinne - eher karikaturistisch...Selbst ihr kleiner revolutionärer Tempel brachte kein Verständnis dafür auf, daß ein Akt die Treppe herabsteigen konnte".                                                               
(Calvin Tomkins "Duchamp" ,S.101)

Duchamp fuhr mit dem Taxi zur Ausstellung und holte das Bild ab, hielt sich in der Folgezeit aber auf Distanz zu den "vernünftigen Kubisten", deren Treiben auch Picasso und Braque mit Distanz begegneten. Das Bild erregte kein Aufsehen bei einer ersten Kubistenausstellung in Barcelona im selben Jahr und sorgte auch nicht für Wirbel, als es im Herbst nochmals zu Ausstellung in Paris kam. 1913 reiste das Bild nach Amerika und wurde in der Armory Show für New York zu einer Ikone des Modernismus europäischer Malerei und wurde für nur 342 Dollar verkauft.
 
"Am Abend des 17. Februar 1913 wurde in New York an der Ecke Lexington Avenue und 25th Street die große Armory Show eröffnet. Damit begann in den Vereinigten Staaten die allgemeine Rezeption der modernen Kunst. Viele der ersten Reaktionen sind negativ. So artikuliert z.B. der frühere amerikanische Präsident Theodore Roosevelt nach seinem Besuch der Ausstellung am 4. März 1913 seinen prinzipiellen Abscheu gegenüber dem Kubismus. In seinem Artikel, der auf deutsch »Laienhafte Ansichten zu einer Kunstausstellung« heißt, betont er, dass es zwar nötig sei, die künstlerischen Kräfte aus Europa zu zeigen, akzeptiert aber keineswegs die Sicht der Ausstellenden, die er alle Extremisten nennt und deren Anführer er sogar als "champions of these extremists" bezeichnet. Zwar gibt er zu, dass »Wandel« (change) notwendig sei, sieht jedoch nicht Leben, sondern Tod und Rückschritt in dieser Kunst. Damit spielt er auf einen Satz im Vorwort zum Katalog der Ausstellung an, den er selbst zitiert: "to be afraid of what is different or unfamiliar is to be afraid of life." Diese Kunst überhaupt ernstzunehmen, sei möglicherweise ein Irrtum, meint Roosevelt weiter. Zuletzt vergleicht er die Künstler mit Schaustellern, die eine falsche Meerjungfrau ausstellen und mit der Torheit der Menschen ihre Geschäfte machen, bezichtigt die Kubisten also des Betruges und der Täuschung: "There are thousands of people who will pay small sums to look at a faked mermaid; and now and then one of this kind with enough money will buy a Cubist picture, or a picture of a misshapen nude woman, repellent from every standpoint."
Heinz Herbert Mann, „Marcel Duchamp 1917, S. 9
Du hast versucht, sie zu finden,
Und hast vergebens geschaut
Das Bild hinauf und hinab,
Hast versucht, sie zusammenzusetzen
Aus tausend zerbrochenen Stücken
Hast bald dich zu Tode gemartert;
Den Grund für dein Scheitern ich sagen kann:
Es ist keine Lady, er ist nur ein Mann."

(Calvin Tomkins "Duchamp" ,S.140 
er zitiert einen Wettbewerb zur Enträtselung des Puzzles und als Gewinner von 10 Dollar dieses Gedicht)


 
Duchamps Bild trägt im Titel eine Nummerierung II und damit einen Hinweis auf ein Vorgängerbild. Auch in der Literatur wird dieses Vorgängerbild immer genannt, aber abgebildet sieht man es höchst selten. Im Internet bin ich auf eine Abbildung gestoßen, die ich jedoch mit keiner weiteren Quelle verifizieren konnte. Sollte diese Abbildung (li.u.) zutreffen, so zeigen sich schon einige Gemeinsamkeiten  in der Bildkonzeption. Auch in Nr. I besteht die Rahmung des Bildmittelfeldes aus vergleichbaren Treppen- und Stufenelementen. Die Bewegungsspur der Figur ist in Nr. II stärker aufgelöst, raffinierter verschachtelt und lässt die Figur am Ende der Bewegung deutlicher hervortreten. Der Rhythmus erscheint in gleicher Weise differenzierter wie deutlicher akzentuiert durch eine klarere Reihung der verwendeten Elemente. In der Farbe ist bei Version II ein einheitlicherer Klang erreicht, das Grün ist stärker zurückgenommen und Weiß ist ersetzt durch ein leuchtendes Gelb.

Bild oben zeigt einen Blick in die Armory Show von 1913, den zeltartigen Charakter der großen Halle und die Unterteilung, die ein wenig den Charakter einer Messehalle vermittelt.
Ein Verzeichnis der ausstellenden Künstler nennt leider Duchamp nicht, aber:
Salle A : American sculpture and Decorative Art. 
Salle H : French paintings and Sculpture. Matisse, Denis, Vuillard, Bonnard... 
Salle G : English, Irish and German paintings and drawings. Kaninsky, Walter Sickert... 
Salle E : American paintings. Walt Kuhnt, Arthur B. Davies. 
Salle I : French paintings, watercolors and drawings. Matisse, Picasso, Redon, Puvis de Chavanne. 
Salle P : French, English, Dutch and American paintings. Albert Pinkham Ryder, Daumier, Delacroix, Théodore Rousseau, Monticelli, Puvis de Chavannes... 
Salle O : French paintings. Mary Cassatt, Degas, Manet, Pissarro, Renoir, Seurat, Sisley, Toulouse-Lautrec. 
Salle R : French, English and Swiss paintings. Gauguin, Picasso, Puvis de Chavannes, Augustus John. 
Salle Q : Cézanne + Van Gogh. 


C) Kontext II:

Bewegung als Thema von Malerei, Fotografie, Plastik
  • Wenn man einmal realisiert hat, dass das Bild von Marcel Duchamp eine Figur in Bewegung darstellt, dann kann man Vergleiche ziehen zu ähnlichen Darstellungsabsichten anderer Bilder aus dieser Zeit. Während sich der Maler Jean Louis Ernest Meissonier (1815-1891) noch in jahrzehntelangen Studien für sein Bild "Friedland" (1863-73) bemühte "die Proportionen und Bewegungsabläufe von Pferden mit größtmöglicher Genauigkeit zu bestimmen" (laut Ross King, "Zum Frühstück ins Freie", S. 310ff, ließ er eine eigene Eisenbahnstrecke auf seinem Grundstück errichten und beobachtete aus dem fahrenden Waggon das daneben galoppierende Pferd), löste der engliche Fotograf Eadweard Muybridge in Amerika dieses Problem fast zeitgleich mit Hilfe der Fotografie. 1881 kam es zu einem Zusammentreffen von Meissonier und Muybridge in Paris. Auf Einladung des Malers führte der Fotograf einer erlauchten Gesellschaft von Künstlern bewegte Bilder von Mensch und Tier mit Hilfe eines von ihm 'erfundenen' Apparats ('Zoöpraxiscope') vor. Noch zum Ende des 19. Jh. wurde das bewegte fotografische Bild zu einer Jahrmarktsensation höchsten Ranges. Muybridge fotografierte für sein Buch "Human figure in motion" (copyright 1899) zahlreiche Bewegungsabläufe meist mit unbekleideten Modellen. Auch der Akt, eine Treppe herabsteigend, gehörte in mehreren Varianten zu seinem Repertoire. Während es Muybridge darauf anlegte, die Bewegung in einzelne Phasen zu zerlegen, war der französische Physiologe Marey daran interessiert, die Phasen zu einem Bewegungsmuster zu verschmelzen. Dazu reduzierte er die Figur mit Hilfe schwarzer Kleidung, auf der helle Linien für Arme und Beine sowie Punkte für Knie und Schulter aufgetragen waren, sozusagen auf ihr Bewegungsgerüst. Insofern liegt Duchamps Bild näher an Marey (Bild unten) als an Muybridge (Bild oben), wenn auch Duchamps Gemälde als einer rationalen, wissenschaftlichen Bewegungsanalyse kein Wert zugemessen werden kann. In diesem Punkt hat sich die Fotografie der Malerei als überlegen erwiesen.
  • Duchamp stand mit seinem Interesse an der bewegten Figur nicht alleine da in der Malerei. Wie schon oben ausgeführt, lag er damit näher an den Futuristen als am Kubismus, dem es zu dieser Zeit eher um eine Bildarchitektur und damit um Statik ging (deshalb auch das Stilleben als bevorzugtes Sujet) als um Bewegung. Als Beispiele lassen sich Gemälde aus dem Jahr 1912, also zeitgleich mit Duchamp von Giacomo Balla (u.li und re) heranziehen oder auch eine Figur von Umberto Boccioni aus dem Jahr 1913 (u. Mitte), die gar den Versuch macht, Bewegung in die figürliche Plastik zu übersetzen.
  • Ein eigenartiger Zusammenhang muss hier festgehalten werden: Die menschliche Wahrnehmung realisiert Bewegung als ein fließendes Phänomen, dessen Einzelheiten sich ab einem bestimmbaren Grenzwert unserer Beobachtung entziehen. Die Technik der Fotografie erst macht es möglich, das Gesamt der Bewegung in kleinste zeitliche Abschnitte, Phasen zu zerlegen und diese isoliert festzuhalten. Es war schon ein Bedürfnis des Impressionismus, dem flüchtigen Moment - der Impression - Dauer zu geben. Die Malerei, als ein extrem langsames Verfahren der Bilderzeugung, gewinnt durch die schnelle Fotografie ein neues Motiv, die Bewegung. Damit öffnen sich sowohl für die Malerei als auch für die Fotografie neue Horizonte. Die Fotografie eilt in schnellen Schritten auf den Film zu, ringt aber dabei dem Thema Bewegung nicht nur das scharfe(!) Phasenbild (Muybridge) und die auf grafische Elemente (Linie und Punkt) reduzierten Facetten der Bewegungsspur (Marey) ab, sondern auch den Bewegungsfluss als Bewegungsunschärfe, in dem beide Aspekte durch hochempfindliches Material verknüpft sind. In dieser Beziehung verdient der Futurist Anton Giulio Bragaglia hier eine besondere Aufmerksamkeit, weil er mit seinen Fotografien den Aspekt der Bewegungsunschärfe thematisiert hat, nicht zuletzt mit Folgen für die Malerei von Boccioni bis Richter. Duchamp nähert sich diesem Phänomen noch zögernd an. Die Transparenz von sich überlappenden Teilformen und das Verlaufen einiger Linien und Farbübergänge weisen bereits in diese Richtung.
"Anders als Marey wählte Anton Bragaglia eine lange Belichtungszeit, so daß die jeweilige Bewegung kontinuierlich auf der Platte festgehalten wurde, das sich bewegende Sujet jedoch in keiner Phase scharf umrissen wiedergegeben ist. Vielmehr erscheint es beinahe durchsichtig, und die materielle Gestalt ist in Lichtbögen, Strudel und verwischte Flächen verwandelt." 
(Wolfgang Ullrich, "Die Geschichte der Unschärfe" S.81)
Boccioni hat nach so einer Fotografie von Bragaglia ein Selbstportrait gemalt, an dem man sieht, dass er der Idee der Bewegungsunschärfe auch noch mit Distanz begegnete. Er hat die Momente, in denen bei der fotografischen Aufnahme der Bewegungsfluss ins Stocken kam, bevor die Drehung fortgesetzt wurde wieder stärker isoliert im Sinn von Phasen. Die "Lichtbögen" von denen Ulrich spricht, die bei Duchamp eine Rolle spielen, und deren Umformung in dunkle Speedlines haben auch bei Boccionis Portrait ihren Niederschlag gefunden.