Unterrichtssequenz zum Lernbereich Körper

3. Aktuelle Körperdiskurse in Kunst und Alltagsästhetik

von Uli Schuster 2008

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Der neue Lehrplan für die Oberstufe des G8 in Bayern sieht in 11.1 eine Auseinandersetzung mit dem Themenfeld "Körper" vor. Die nachstehende Unterrichtssequenz möchte in vier abgeschlossenen Einheiten ein Beispiel geben, das diesem Anspruch gerecht zu werden versucht. Die Unterrichtssequenz ist auf vier getrennte Adressen verteilt, die entweder direkt angesteuert werden können oder oben im Kopf dieser Seite über die Kapitelüberschriften erreichbar sind.
 
  • An wichtigen Positionen der sich entfaltenden Moderne wird in einer ersten Einheit ein künstlerischer Diskurs innerhalb der Gattung Plastik dargestellt, der für diese Epoche bezeichnend ist. Anhand von Skulpturen und Plastiken, die um die Jahrhundertwende entstanden, kann beispielsweise die Vorstellung von der Einzigartigkeit des Kunstwerks kritisch beleuchtet werden.
  • In einer zweiten Einheit wird, wie bisher in der Oberstufe auch, die Werkanalyse erprobt, und zwar exemplarisch am besten an einem Schlüsselwerk. Auf der Basis einer Formanalyse wird ein Gemälde untersucht in Bezug auf seine flächige und räumliche Bildordnung sowie auf Licht/Farbe und die Ordnung von Bildobjekten, soweit sie sich als solche noch zu erkennen geben. 
  • Schließlich stellt eine dritte Einheit Bezüge her zu aktuellen Körperdiskuren in neuerer Kunst und in der Alltagsästhetik.
    Jede dieser Einheiten kann einen eigenen Bezug zu einer bildnerisch-praktischen Aufgabe herstellen, weshalb die vierte Einheit in dieser Reihe auch nur ein Beispiel sein kann, wie sich in die vorhergehenden Reflexionen und Übungen eine entsprechende Arbeit einreihen kann.

III. Aktuelle Körperdiskurse
Über die Frage, was man als Kunst der Gegenwart bezeichnen möchte, kann man geteilter Meinung sein. In der Regel wird ein 50jähriger das anders beantworten als ein 20jähriger. Ich möchte hier meine Betrachtung auf zwei Künstler beschränken, deren Arbeit mich beeindruckt hat und habe mir auch aus "meiner Gegenwart" Beispiele gesucht über die ich einen Zusammenhang herstellen kann zu den Problermstellungen, Positionen, die ich in der ersten Unterrichtseinheit als charakteristisch für die Epoche um die Jahrhundertwende vorgestellt habe.
Ed Kienholz
Der amerikanische Bildhauer Edward Kienholz (geb. 1924-1994) arbeitete aufgrund eines Stipendiums Anfang der 70er Jahre zusammen mit seiner Frau Nancy in Berlin. Dort entstand ein Environment, das in meinen Augen auch heute seine Aktualität noch nicht verloren hat, die "Art Show". Der phrasenlos handfesten Praxis des Farmersohnes und künstlerischen Autodidakten Ed Kienholz
entsprach die rigorose Ablehnung jedweden Kunstgeschwätzes, das er in The Art Show nicht nur von Künstlern, sondern auch von den Urhebern selbst persiflieren ließ, insbesondere aber des Kults um die »große Künstlerpersönlichkeit« und der Heiligsprechung der Kultur im Vergleich zu allen anderen Lebensbereichen. »Alle Kultur ist anmaßend«, sagte Kienholz, die aktuelle Debatte um viele Jahre mit einer Radikalität vorwegnehmend, die selbst heute noch von vielen Zeitgenossen als schockierend empfunden wird."                         ( "Kienholz Retrospektive" Hrsg. Walter Hopps, darin S.59: Karl Ruhrberg: "Begegnung mit Ed Kienholz"

Kienholz formte mit Gipsbinden insgesamt 19 Freunde und Bekannte ab, applizierte den Figuren Kleidungsstücke, die z.B. die Abgeformten ihm überließen, und arrangierte mit den Puppen sozusagen eine Vernissage (Ausstellungseröffnung), 1977 zuerst in der Berliner Galerie Skulima, in Paris und in München, sowie später in den USA. Zwischen die Puppen mischte sich das Publikum. Während sich die Lebenden bei solchen Gelegenheiten gerne dem spendierten Sekt und den Häppchen zuwenden, hatten die Bilder an den Wänden stets ein interessiertes Publikum aus Gipsfiguren, deren Gesichter mit Lüftungsschlitzen aus Autos versehen waren, aus denen mit Hilfe von Lautsprechern "warme Luft" geblasen wurde. Auf Brusthöhe waren den meisten Plastiken Kästen aus Plexiglas anmontiert. Die darin befindlichen Tonbandgeräte lieferten den Lautsprechern auf Endlosschleifen die für eine derartige Veranstaltung angemessenen Gesprächsfetzen und Kommentare.

"Wie lang der Weg vom flüchtigen Einfall bis zur endgültigen Ausführung einer Idee sein konnte, zeigt die Geschichte der Art Show, des Environments, für das die Kienholz-Kinder, Künstlerfreunde, Museumsleute und auch eine Operndiva Modell standen. 1963 hatte Kienholz bereits die ersten Pläne im Kopf, 1967 konkretisierte er sie in einer Konzepttafel, doch erst sein Berlin-Stipendium gab 1973 den letzten Anstoß zur praktischen Arbeit an dem Projekt, das Ed und Nancy Reddin Kienholz, seit 1973 seine Frau und Partnerin, gemeinsam fertigstellten. Die Arbeit hatte auf einem Autofriedhof in Los Angeles begonnen, als er, Sohn Noah und zwei Freunde Belüftungsklappen aus einem Auto rissen und sie in einer Kiste nach Deutschland schickten. Hier wurden sie in den Gesichtern der Figuren als Münder eingesetzt, aus denen mit Hilfe von Tonbändern »der ganze Unsinn« ertönte, »den Kunstkritiker schreiben und den niemand versteht«, wie Kienholz im Katalog schrieb. Bis zur endgültigen Fassung dauerte es noch etliche Jahre. Erst 1977 wurde »das verdammte Ding« (Kienholz) fertig. Im März fand die Vorbesichtigung in der Berliner Galerie Skulima statt, der im Juni die eigentliche Premiere im Pariser Centre Georges Pompidou folgte."                    (Karl Ruhrberg: "Begegnung mit Ed Kienholz")

Zusammenhang: 
Wir erinnerun uns: Bei Rodin konnte allein der Verdacht, er hätte einen Lebendabguss zum Kunstverk deklariert, in der Kunstwelt noch für erhebliche Aufregung sorgen. Seit den 60er Jahren hat ein aus Amerika nach Europa importierter Neorealismus (z.B. die Pop Art) mit direkt abgeformten Körpern die Ausstellungen überschwemmt. Ed Kienholz, George Segal, Duane Hanson sind nur die bekanntesten Vertreter dieser Art von Plastik. Dabei sind Kienholz und Segal weniger an Details interessiert als an einer allgemeineren Charakteristik der Figur, die aber immer noch den Eindruck von Individualität vermittelt. So haben diese Abformungen immer die anrührende Wirkung von Mumien oder Totenmasken.

"Wenn ich daran denke, wie verrückt es ist, daß mir jemand für ein Ding 100 000 Dollar bezahlt, das nur sieben Dollar wert ist, und daß manche Künstler ihren Namen auf eine Leinwand setzen und daß es dann auf die Auktion kommtl Ohne Kompromiß: Das alles hat keinen Wert! Wenn ein Gesetz gemacht würde, daß, wenn ein Künstler stirbt, sein Werk zuerst photographiert und dokumentiert und dann zerstört werden würde, so wäre das für mich durchaus in Ordnung, und ich würde innerhalb dieses Systems im Wettbewerb bleiben."                  (Ed Kienholz zitiert von Karl Ruhrberg: "Begegnung mit Ed Kienholz" s.o.)


David Hockney
Seit 1960 setzte sich der Britische Künstler David Hockney (geb. 1937) intensiv mit dem Werk Picassos auseinander und damit auch mit dem Kubismus. 1982 machte er erste Versuche mit einer Sofortbildkamera von Polaroid und entwickelte in der Folge über vier Jahre hinweg ein Konzept der Fotocollage, in dem er Portraits, Stilleben und Landschaften aus Fotoserien von bis zu 600 Bildern zusammensetzte. Die Synthese eines Portraits, einer Landschaft, eines beliebigen Sujets aus einer Vielzahl von Teilansichten bringt kubistische Effekte in die Fotografie und gewinnt damit sowohl der Fotografie neue Darstellungsweisen ab, wie sie den Kubismus als durchaus realistische Kunst erscheinen lässt. Aus annähernd 400 solcher Montagen möchte ich eine herausgreifen, die sich mit der Figur beschäftigt, "Akt" von 1984. Das Bild entstand als Auftragsarbeit für den Filmregisseur Nicholas Roeg in der Pose eines Pin-Up Aktes.
 
"Schon 1970 hatte er Fotoserien gemacht und die Bilder mit der Absicht aneinandergeklebt, auf diese Weise umfänglichere Architekturaufnahmen ohne die Verzerrungen eines Weitwinkelobjektivs zu erhalten. Er nannte diese Werke »joiners«, »Verbinder«. Schließlich kam er zu der Erkenntnis: »Wenn man sechs Bilder nebeneinanderlegt, dann schaut man auch sechsmal hin. Das kommt schon eher dem nahe, was man tut, wenn man jemanden ansieht.«  Er stellt fest, daß der Blick ununterbrochen in Bewegung ist, daß die visuelle Erfahrung sich aus der Kombination veränderlicher Blickwinkel zusammensetzt, die je nach Interesse hervorgehoben werden und von vorgefaßten Vorstellungen und von der Erinnerung abhängig sind. Eindrücke der Tiefe und der Bewegung sind für das Auge natürlich und bestätigen nach seiner Erkenntnis jene Definition der Wahrnehmung, die sich im Impressionismus und Kubismus herausbildete. Während eine einzelne Fotografie nur einen Augenblick gleichsam einfrieren kann - Hockney nennt sie »einäugige« Bilder -, vermittelt eine Fotocollage jenes Mosaikbild, das sich aus der Beobachtung in der Zeit ergibt.
                                              (Aus "David Hockney - eine Retrospektive" Ausstellungskatalog Los Angeles1988, darin Anne Hoy: "Hockneys Fotocollagen", S.56

 
Zusammenhang:
Die Hinwendung zum Kubismus in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jh. wurde von der Kunstgeschichte immer als radikale Abwendung vom perspektivischen Bild und einem fotografischen Realismus/Naturalismus gedeutet. Umso erstaunlicher muss es nun erscheinen, dass sich hier ein Maler ein Lebensalter später der Fotografie bedient um kubistische Bildeffekte zu erzielen und darüber hinaus mit Hilfe der Fotografie visuelle Phänomene zu simulieren, die der kubistischen "Sehweise" auf der Spur sind, indem sie "Tastvorgänge" und Bewegung der Augen simulieren. Damit rückt Hockney den Kubismus auch in eine Tradition mit dem Impressionismus, dessen Malweise insbesondere bei Seurat und seinem Divisionismus auf einer Interpretation visueller/retinaler Wahrnehmung beruht. Für Duchamp, von dessen "Akt, eine Treppe herabsteigend" wir ausgegangen sind, war seine Malerei und insbesondere seine Objektkunst vom Wunsch getragen auf Distanz zu einer "retinalen Kunst" zu gehen.
Anders als bei Duchamp geht bei Hockney der Bewegungseindruck nicht vom Bildobjekt aus, sondern ist er in der Hauptsache verursacht durch die Bewegung des Fotografen, deren Systematik kaum zu durchschauen ist. Frontale- mischen sich mit seitlichen Ansichten. Im Wesentlichen sind Details aufgenommen, die allein zum Teil nur schwer in Bezug auf ihre Lage im Puzzle einzuordnen sind. Das Bild hat ein Format von 181x124 cm und erreicht so etwa die Lebensgröße der Person. Die rechteckigen Bildausschnitte sind überlappend montiert, scheinen auch im Format individuell beschnitten zu sein. Die winkeligen Verdrehungen der sich überlagernden Bildausschnitte, stellenweise auch ihre rhythmische Reihung bilden ein sehr dynamisches Moment der Komposition, das mit der Faltung der seidig glänzenden Decke korrespondiert, auf der der Akt liegt. Da die einzelnen Puzzlestücke passgenau nicht zu legen sind haftet der gefundenen Lösung etwas "Vorläufiges" an. Mit Sicherheit könnten aus dem gegebenen Material verschiedene und sehr unterschiedliche Versionen arrangiert werden. Im Bereich des Gesichts hat Hockney durch Wiederholung des Mundausschnitts einen bewegten Akzent gesetzt, während er Augen und Nase und damit den Blick beruhigt und fixierbar lässt, der somit den Betrachter direkt anspricht. Extreme Richtungswechsel des Blicks kann man am Gesäß, den Brüsten und am Kopf beobachten.

Motion Capturing
1997 konnte man Michael Jackson als Skelett durch sein Video "Ghost" tanzen sehen. Der Realismus der gezeigten Bewegungsabläufe und damit der Figuren verdankt sich einem Hightech-Verfahren, das aus der Medizin stammt: dem Motion Capture. Bereits am Ende des 19. Jh. hatte der Physiologe Marey auf fotografischem Weg dazu die Grundlagen geschaffen. Seine Studien zum Vogelflug und auch zu Bewegungsabläufen beim menschlichen Körper haben wir im Zusammenhang mit Duchamps "Akt, eine Treppe herabsteigend erwähnt. Spezial-Kameras fangen heute die Aktionen eines oder mehrerer Schauspieler ein. Aus den Daten formen Animationsprogramme Bewegungsabläufe virtueller Figuren, die denen des menschlichen Vorbilds völlig analog sind. 
 
Im Prinzip haben Muybridge und Marey hundert Jahre vor Michael Jackson die Grundlagen geliefert für das Motion-Capturing, das die Animateure für das Video von Stan Winston anwendeten. Im Computer wird ein 3-D Modell eines menschlichen Gerippes nachgebaut, dessen Glieder über die Gelenke beweglich sind wie bei einer menschlichen Figur. Damit dieses Modell die Bewegungen des Tänzers nachvollzieht kleiden die Filmer den Tänzer schwarz ein und lassen ihn vor einer schwarzen Wand tanzen. An seinem Bodystocking sind an Gelenken und anderen bewegungsrelevanten Punkten reflektierende Markierungen angebracht, die von der Kamera aufgezeichnet und an einen Rechner übertragen werden. Jedem dieser Punkte am Körper des Tänzers ist ein Punkt am Raummodell des Skeletts zugeordnet. Damit besteht im Film jede Bewegungsphase aus einer speziellen Konfiguration dieser Punkte zueinander. So kann der Computer am virtuellen Modell die Bewegungen des Tänzers ganz realistisch simulieren.
Nicht nur im grobmotorischen Bereich einer tanzenden Figur lässt sich das Verfahren gewinnbringend für den Animationsfilm einsetzen. Auch im feinmotorischen Bereich etwa des Gesichtsausdrucks führen mittlerweile Studien, die am realen Gesicht gemacht werden zu relativ komplexen Simulationen an Modellen, die im Animationsfilm das Publikum zum Mitleiden umd Mitfreuen bewegen wollen.

Literatur: 
David Hockney - eine Retrospektive" Ausstellungskatalog Los Angeles1988