Kunsterziehung
Vorbild für das Neue Lernen

Nach einem Hörfunkbeitrag von G. v. Lübke, bearbeitet von Th. Rudloff



Der Kunstunterricht hat keine Lobby.

Offiziell heißt es von Staatssekretär im Kultusministerium, Karl Freller:

"Wir halten den Kunstunterricht für einen ganz wesentlichen Unterricht im Bereich der musischen Bildung und werden mit Sicherheit alles tun, daß dieser Kunstunterricht und der musische Unterricht insgesamt weiterhin einen hohen Stellenwert behält."


Tatsächlich steht dem Bekenntnis zu Kunst und Kultur, das in Sonntagsreden von Politikern immer wieder beschworen wird, eine relativ deprimierende Schulwirklichkeit gegenüber. Von "hohem Stellenwert" ist hier wenig zu spüren:

In den berufsbildenden Schulen findet Kunsterziehung nicht statt. In der Hauptschule gibt es in der 5. und 6. Klasse verbindlich 2 Wochenstunden Kunst, in der Realschule steht von der 7. bis 10. Klasse nur Musik auf dem Stundenplan, Kunst taucht lediglich als eine von vier Wahlpflichtfächern auf. In der Planung zur umstrittenen sechstufigen Realschule ist dieser Zweig wohl abgeschafft. Im Gymnasium wird geplant, den Leistungskurs in der Kollegstufe zu streichen. Das trifft das Fach besonders hart, denn der hat sich meist sehr positiv auf die ganze Schule ausgewirkt. Zwischen 8. und 11. Klasse, während der die Schüler in der Pubertät auf der Suche nach ihrer eigenen Identität sind, ist nur noch eine Stunde für die Kunsterziehung reserviert. Weil 45 Minuten kaum für mehr reichen als auszupacken, ein kleines Bildchen anzufangen und wieder aufzuräumen, bietet das Kultusministerium den Kunstpädagogen an, ein Schuljahr zweistündig unterrichten zu können, wenn sie im Schuljahr darauf zugunsten von Musik ganz verzichten. Diese Unterbrechungin der Bildungskontinuität wird auch noch verkauft als eine Verbesserung des Faches, wie auch die Abschaffung des Leistungskurses angepriesen wird als Verbesserung der Allgemeinbildung, weil alle Schüler dann im Grundkurs Kunst hätten. (?)

Kunsterziehung wird nur deshalb belächelt, weil niemand so recht weiß, womit sich das Fach eigentlich beschäftigt. Längst geht es nicht mehr ums Bildermalen während einer Schlafstunde. Da werden ganze Filme gedreht, Skulpturen oder andere Großprojekteverwirklicht, mit medialer Kunst experimentiert, Kunstwerke - eigene oder aus der Kunstgeschichte - analysiert und dem eigenen Ausdruckswillen Raum gegeben. Im Lehrplan ist der Kunstunterricht mit so vielen Aufgaben belegt, daß es einen Generalisten bräuchte, um sie zu erfüllen.
In Kunsterziehung geht es darum, Gefühl, Psychomotorik und Intellekt zu verbinden, selbst ein Projekt planen, es umsetzen und dabei emotional engagiert sein bei permanenter Reflexion.
Da geht es um nichts geringeres, als das eigene Bild der Welt, das Erfassen der Wirklichkeit, ihre sinnvolle Ordnung samt den Möglichkeiten ihrer schöpferischen Weiterentwicklung durch den Menschen. Urteils- und Handlungsfähigkeit, Verantwortung, Wahrheit, Toleranz und Wertebewußtsein lauten die hohen Ziele dieses Faches.

Meinung einer Leistungskursschülerin:

"Ich glaube, daß man sich einfach viel mehr als in anderen Fächern in Kunst mit sich selber auch auseinandersetzen muß, denn wenn Du eine Klausur in irgendeinem Lernfach danebensetzt, tangiert es Dich sicher nicht so stark, wie wenn Du ein Bild malst und dann stehen die Lehrer daneben und sagen, das ist ja nun aber wirklich Scheiße, weil man immer ein Stück von sich selbst da ´reinsetzen muß."


Je komplexer die Welt, so die selbstbewußte Haltung der Kunsterzieher, desto wichtiger wird der Kunstunterricht.

Bernt Engelmann, zuständig für Fachdidaktik in der Medienwerkstatt an der Kunstakademie, München:

"Ich sehe die Hauptaufgabe für Kunsterzieher an den Schulen immer mehr wachsen, d. h. es sind Arbeitsformen, wo die Schüler in der Gruppe, im Team, selber Ziele, Ergebnisse definieren, formulieren, - erfinden überhaupt ersteinmal - und dann in einem längeren Arbeitsprozeß gemeinschaftlich erarbeiten und verwirklichen. Wenn man heute mit Managern von großen Industrieunternehmen redet, dann tischen die ungeheuere Zahlen auf, was das jeweilige Unternehmen investiert, um die Leute, die von den Schulen kommen, für ihre Ziele fortzubilden. Die Fortbildung bezieht sich zum Teil auf Spezialwissen, aber zum überwiegenden Teil auf Kompetenzen, die mit der ganzen Arbeitsmethodik zusammenhängen, als z. B. im Team zu arbeiten, selbstständige Arbeitsteilung zu übernehmen und die durch entsprechende Kommunikation mit anderen zu vernetzen. Diese ganzen Anforderungen werden heute in der Schule ignoriert. Im Gegenteil, sie werden fast verboten und finden nur punktuell in Bereichen statt, die als Dekoration der Schule gelten, aber nicht Bestandteil sind der sogenannten harten Fächer."


Kunsterzieher verstehen sich als Alltagspraktiker. Denn wer in der modernen Arbeitswelt bestehen will, braucht ästhetisches Gefühl und den Mut, sich immer wieder auf neuem Gebiet zu erproben. Statt Unmengen an Schulwissen zu konsumieren, das kurz nach den Prüfungen vergessen wird, nimmt der Kunstunterricht seit jeher für sich in Anspruch, durch praktisches, handlungsorientiertes Arbeiten, das Wissen sinnlich zu verankern. Wo der traditionelle Unterricht lineares, kausales Denken fördert, bietet die Kunst vernetztes, diskursives Denken an und setzt auf emotionale Intelligenz.
Folgt man dieser Argumentation, dann müßte sich die ganze Schule am Kunstunterricht orientieren und seine Methoden zur pädagogischen Leitlinie erklären anstatt das Fach immer mehr abzudrängen und auszudünnen!

Tatsächlich erhalten die Kunstpädagogen hier handfeste Unterstützung von der modernen Wissenschaft:
Die Gehirnforschung hat gezeigt, daß beide Gehirnhemisphären immer gleich involviert sind: die linke logisch-rationale Gehirnhälfte und die rechte , die mehr für Gefühle und ganzheitliche, bildhafte Vorstellungen zuständig ist. Wenn man jetzt junge Menschen in die Lage versetzen will, zu neuen Ideen zu kommen - es wird ja viel darüber geredet - dann muß man von klein auf beide Gehirnhälften gleichermaßen trainieren. Im traditionellen Bildungssystem wurde zum Großteil nur die linke Gehirnseite ausgebildet. Das ist Körperverletzung! Wenn man wirklich mehr Innovation will, muß man der Schule die Möglichkeit geben, auch die rechte Gehirnhemisphäre zu tainieren: mehr Kreativitätsförderung im Rahmen des Kunst- und Musikunterrichts.

Neurologen, Lernpsychologen und Kreativitätsforscher fordern deshalb vom Bildungssystem, die Lernprozesse mit der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns in Einklang zu bringen.

Hans Daucher, emeritierter Professor für Kunstpädagogik an der Universität München und Vorsitzender des Bundes Bayerischer Kunsterzieher:

"Die Natur stellt uns ein hoch komplexes Feld von Neuronen zu Verfügung in unserem Gehirn, das aber durch Erfahrung erst strukturiert wird. Die Architektur unseres Gehirns baut sich auf von Geburt bis etwa zum Ende der Pubertät. Dann ist der Aufbau des menschlichen Gehirns abgeschlossen. In den kann hineingelernt werden, aber bleibt in der Struktur unverändert. Das heißt, daß bestimmte Erfahrungsbereiche, die nicht gemacht worden sind oder nur spärlich, sich für das ganze Leben als Blockierungen auswirken."


Kunstpädagogen weisen darauf hin, daß ihr Fach Möglichkeiten bietet, tatsächlich für das Leben zu lernen.

l Kunsterziehung bietet einen Erfahrungsraum.
l Wer künstlerisch kreativ ist, übt die freie Entscheidung.
l Wer Modelle baut, lernt Zukunft neu zu entwerfen.
l Wer neue Lösungen sucht, trainiert seine Kritikfähigkeit.
l Wer individuelle Arbeiten offen bespricht, übt Toleranz für das Andere.
l Wer persönliche Lösungen zuläßt, fördert das Selbstbewußtsein und den Mut, zu einem eigenen Lebensentwurf zu kommen
und dazu zu stehen.


Spätestens mit Blick auf den Lehrplan wird klar, daß Kunsterzieher ihn bei immer weniger Unterrichtsstunden, aber immer umfassenderen Aufgaben weit auslegen m ü s s e n, was künstlerisch durch den erweiterten Kunstbegriff z. B. auch gerechtfertigt ist.

Wer unter Bedingungen, die sich seit Jahren verschlechtern (in den letzten 40 Jahren ist die Stundenzahl um 50% gesunken!) wirklich gute Arbeit machen will, schafft das nicht ohne ein hohes Maß an perönlichem Engagement. Große Projekte laufen nur, wenn auch der Lehrer mitmacht. Dann sind aber auch außergewöhnliche Leistungen möglich.
Im Klartext heißt das:
Überstunden, Nacht- und Wochenendarbeit.
Das kleine Häufchen kreativer Aktionisten unter den bayerischen Kunsterziehern wird gerne als Werbeträger für die bayerische Schulpolitik mißbraucht, von Aufstiegsmöglichkeiten durch falsche weil administrative(!) Leistungsanforderungen ausgeschlossen und ist sich dessen wohl bewußt. Denn vielen Kollegen ist die Vorstellung unerträglich, ihren Beruf nur als Job zu sehen.
In ihreren Forderungen sind sich deshalb Professoren, Lehrer und Verbände einig:
Erhalt der jetzigen Kollegstufe mit dem Leistungskurs und - als Minimalforderung - 2 Wochenstunden Kunsterziehung in allen Jahrgangsstufen.

Günther Frenzel, Lehrbeauftragter an der Kunstakademie München:

"Ich denke, da müssen die anderen Fächer auch langsam aufwachen und sich überlegen, ob ihr methodisches Instrumentarium, was sie bisher haben, ausreicht. Ich denke, da ist noch unheimlich viel Spielraum. Die Kunst ist dann das Fach, das diese Möglichkeiten am intensivsten bereithält und vielleicht zu einer Art Quelle wird für die anderen Fächer."


Der Kunstunterricht ist eine kreative Insel im Meer der meist reproduktiven Paukschule, wie sich ja auch an der vielbeachteten TIMSS-Studie gezeigt hat, mit freiem Spiel, handlungsorientiertem Lernen und sinnenhaftem Begreifen.

Am Konflikt um den Kunstunterricht wird deutlich, daß die Bildungsplaner eine grungsätzliche Entscheidung treffen müssen. Lernen heißt immer, einen Sachverhalt mit der eigenen Person zu verbinden.
Kreativitätsförderung und Paukschule schließt sich gegenseitig aus!
Die Alternative lautet:
Exemplarisches, handlungsorientiertes, spielerisches und sinnenhaftes Lernen in Teams.

Auf diesem Weg geht die Kunsterziehung seit Jahren mit gutem Beispiel voran.