Neuzeit und Picasso

von Reinhard von Tümpling

Ich habe diese Unterrichtsreihe im Schuljahr 2008-2009 in zwei neunten Klassen der HS By R9 gehalten, und ich habe bereits ähnlich zu nachgeordneten und nachempfundenen Picassos gearbeitet, die bei der bildnerischen Bearbeitung, Wiedergabe und Auflösung zu Punk gerieten.

Es ging mir konkret um Picassos Lebenszeit zwischen 1908 und 1914 und ich habe die Situation mit meinen einfachen Mitteln nachgestellt.

Neu waren zu dieser Zeit für mich auf der Suche nach dem Unbekannten:

Die Erlaubnisscheine der Erziehungsberechtigten der Abbildung der Schülerarbeiten aus dem Schuljahr 2008-2009 dazu liegen real vor.

Zum Speichern von Bildern und Schablonen:
rechter Mausklick auf die Abbildung - "Ziel speichern unter.." wählen.

Mit erschrockener Verwirrung den jugendlich und radikal voller Ernst und Anspruch hinterfragten Kunstbegriff gesehen..., es ist ja nur eine Geste, aber was für eine!


Bild: Kunst_1.jpg
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Bild: Kunst_3.jpg
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Bild: Kunst_5.jpg
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Bild: Kunst_4.jpg
: diese Beamer-Installation mit Interieur zeigt ein klimatisiertes Museumsmagazin, und nur die eingeblendete Zeit ändert sich laufend und gnadenlos; die leuchtende reale Schreibtischlampe kontrastiert das Medium nur umso härter und ich musste mir vorstellen, welche Werte dort lagern können.

 



Bild: Schuhe_2008.jpg
: ein Abendspaziergang. Es ist mittlerweile möglich, sich für jede stilistische Befindlichkeit und Moderichtung die passenden Schuhe zu besorgen.

Ich habe erneut ein ähnliches Sachfeld in der neunten Klasse überstrichen und noch einmal das Thema der „Pop-Schuhe“ aufgegriffen-, es war aktuell genug.....


Bild: PopArt_21_Schuh_3.jpg
: meine alten Rasenmäher-Schuhe

Bild: Pop_Schuhe_R_2006.jpg
: mit Heiterkeit wahrgenommen

Bild: PopArt_24_2009.jpg
: die Schüler stellten ganz korrekt ihre teilweise recht teuren Treter vor sich hin und zeichneten sie geduldig ab.......

Bild: PopArt_25_2009.jpg
: ....und zur Not musste mein alter mitgebrachter eigener Schuh als Beispiel her halten (Methode: bildhafte Tischvorlage und Objekt)

Die Ergebnisse:


Bild: PopArt_26_2009.jpg
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Bild: PopArt_27_2009.jpg
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Bild: PopArt_28_2009.jpg
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Bild: PopArt_29_2009.jpg
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Bild: PopArt_30_2009.jpg
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Bild: PopArt_31_2009.jpg
: eine Siebtklässlerin durchschaute das Prinzip der PopArt sehr schnell und erkannte die Aneinanderreihung des an sich banalen überall gegenwärtigen Einzelbildzeichens, ohne dass es zugleich nun noch das Spiel mit der Aufmerksamkeit war.


Was war nun noch Pop? Populär, volksnah? Brauchtumsnah?

Um die Vorweihnachtszeit fing ich eine Reihe von Plätzchen-Ausstechformen an, aus verzinntem und gebördeltem Blech, weil ich das Prinzip ebenfalls als einfach anerkannte.

Dazu die Bilddatenbank:


Bild: PopArt_6_2008.jpg
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Bild: PopArt_7_2008.jpg
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Bild: PopArt_8_2008.jpg
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Bild: PopArt_9_2008.jpg
: mit dem unterschiedlichen Licht und der Anordnung gespielt

Manche der Schüler-Skizzen dazu zeigten einen wesentlich abstrakteren Einsatz:


Bild: PopArt_2_2008.jpg
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Bild: PopArt_3_2008.jpg
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Bild: PopArt_4_2008.jpg
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Bild: PopArt_5_2008.jpg
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Die Ergebnisse:


Bild: PopArt_10_2009.jpg
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Bild: PopArt_11_2009.jpg
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Bild: PopArt_12_2009.jpg
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Bild: PopArt_13_2009.jpg
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Bild: PopArt_14_2009.jpg
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Bild: PopArt_15_2009.jpg
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Bild: PopArt_16_2009.jpg
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Bild: PopArt_17_2009.jpg
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Bild: PopArt_18_2009.jpg
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Bild: PopArt_19_2009.jpg
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Bild: PopArt_20_2009.jpg
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Die gedankliche Spiegelfolie:


Bild: Lifestyle.jpg
: ich habe durch den Katalog diese indirekt vergleichende Werbung für sachliche Wohn- und Markenartikel als gegensätzlich und vergleichend begriffen, -eine etwas umstrittene Methode, um die Einzelwerte polarisierter und klarer zu sehen.

Dies Bild zeigt Ordnungssysteme für Wohneinrichtungen in zwei völlig verschiedenen Bezugsrahmen und ich zitiere sie wertfrei.

Die kunstgeschichtlich notwendigen Picassos habe ich dieses Schuljahr anders angefangen, weil ich den Eindruck gewonnen hatte, dass Picasso sich in einem völlig anderen Umfeld und im Dialog und im Kontrast weiter entwickeln konnte. Ob es Picasso wirklich so erging?

In dem SZ-Magazin war hinter dem Foto einer zerschlagenen Geige als optischer Aufhänger eine recht dramatische Geschichte zu einem Streicher-Quartett und mir reichte das Bild der angeordneten Bruchstücke; es war selbst in seinem ästhetischen Arrangement so aussagekräftig, dass ich es als schrilles Tafelbild verwendete.


Bild: Picasso_1_2009.jpg
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Ich habe zur Durchgestaltung die bildnerischen Mittel verwendet: Farbstift, Bleistift, weichen Braunstift, Rötel, braune und violette Lasur, farbige Filzschreiber zum Setzen von Schwerpunkten, Packpapier von der Rolle.......

die Instrumente aus http://www.kunstlinks.de/material/vtuempling/picasso/

...und dazu noch das Gewebeflechtwerk der Cafehaus-Stühle nach konstruiert:


Bild: Pic_11_Flechtwerk_2009.jpg
: Tischvorlage


Bild: Pic_2_2009.jpg
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Bild: Pic_3_2009.jpg
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Bild: Pic_4_2009.jpg
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Bild: Pic_5_2009.jpg
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Bild: Pic_6_2009.jpg
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Bild: Pic_7_2009.jpg
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Bild: Pic_8_2009.jpg
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Bild: Pic_9_2009.jpg
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Bild: Pic_10_2009.jpg
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Wer mag, könnte noch Collagen aus einer Zeitungsmontage zur Erweiterung des Bildzeichenrepertoires verwenden. Ich habe dieses Zeitungstextbild bist fast zum blanken Grau-Wert nachbearbeitet.


Bild: Zeitung_1_2009.jpg
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Ich habe noch ein Blatt Notenlinien in diesem Zusammenhang eingefügt.


Bild: Notenlinien.jpg
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Man könnte die Fragmentierung eines Sinns damit noch weiter treiben.


In der Folge interessierte mich der Zusammenhang von Picasso mit Musik.

Eine im Netz gefundene Datei:

Albinez, Debussy, Fallas, Casals, Strawinsky,

Albinez:

Fallas

Pablo Casals

Strawinsky


unter „Buettner“ gesucht

Eine automatische Übersetzung eines englischen Textes:

"Mathematik, Trigonometrie, Chemie, Psychoanalyse, Musik und so, wurden im Zusammenhang mit dem Kubismus, um ihm eine einfachere Auslegung.

All dies ist reine Literatur, um nicht zu sagen Unsinn, das ist nur gelungen, Verblindung Menschen mit Theorien "(Qtd. Buettner 103). Mit diesen Worten, Picasso getrennt die Verbindung zwischen Kubismus und Musik. Er behauptet, dass die Musik sollte nicht verwendet werden, um die Bedeutung seiner kubistischen Werke. Aber war dieser Picassos Trick, um weitere Intrigen seiner Kunst-und Ausblenden der realen Einflüsse des Kubismus? Wie durch seine Hingabe zu musikalischen Themen in mehr als der Hälfte seiner Kunst vor 1913, Musik eindeutig eine wichtige Rolle in den Fächern von Picassos kubistischen Werke (Buettner 102).“

Übersetzung Ende


Kammermusik in den Räumen der Ausstellung "Picasso und das Theater" in der Frankfurter Schirn

Kurz vor dem Ende der Ausstellung "Picasso und das Theater" in der Frankfurter "Kunsthalle Schirn" hatte sich die Leitung der Schirn noch einen kleinen "Bonbon" für das Publikum ausgedacht. Am 15. Januar trat die französische Sängerin Sylvie Roberts, über ihren Mann mit dem Musiker Francis Poulenc (1899-1947) verwandt, zusammen mit dem griechischen Pianisten mit einem kammermusikalischen Programm auf, das auf die Zeit von Picasso in Paris zugeschnitten war. In dem letzten Raum der Ausstellung, dessen Rückwand ein von Picasso entworfener Theatervorhang ziert, war ein kleiner Konzertsaal mit Flügel und Stuhlreihen eingerichtet worden, um den Besuchern einen ungestörten Genuss der musikalischen Darbietungen zu ermöglichen.

Picasso hat in seiner Pariser Zeit eine Reihe bekannter Dichter und Musiker kennengelernt, unter ihnen Guillaume Apollinaire (1880-1918), Erik Satie (1866-1925), Igor Strawinsky (1882-1971), Jean Cocteau (1889-1963) und Francis Poulenc. Lieder und Musikstücke dieser Künstler bestritten einen Großteil des über eine Stunde andauernden Programms. Zusätzlich hatten die beiden Musiker noch - als Hommage an Picassos Heimat - Gesangsstücke spansicher Komponisten in das Programm genommen, unter ihnen Manuel de Falla (1876-1946), Fernando J. Obradors (1897-1945) und Enrique Granados (1866-1918).

Sylvie Roberts übernahm selbst die Moderation des Programms, wobei sie die Texte zwar vom Blatt las, aber in einem fehlerfreien und gut verständlichen Deutsch. Das konnte man von den Gesangsstücken natürlich nicht sagen, da sie entweder in Französisch oder Spanisch verfasst waren, und das noch in der kryptischen Sprache der späten Romantik und des aufkommenden Surrealismus. Aber auf Textverständnis kam es bei diesem Vortrag auch nicht an, sondern vielmehr auf die künstlerische Darbietung der sehr unterschiedlichen und teilweise temperamentvollen, teilweise melancholischen Lieder. Sylvie Roberts und ihr Begleiter, der auch noch zwei Solostücke für Klavier beisteuerte, erweckten mit ihrer Interpretation dieser Werke aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende die spezifische Atmosphäre dieser Zeit und vermittelten dem Publikum einen Eindruck von der seelisch-geistigen Befindlichkeit der europäischen Künstler des frühen 20. Jahrhunderts.


Picasso

© DIE ZEIT, 02.07.1965 Nr. 27

Werke+Tage

Eine photographische Studie von EDWARD QUINN Einleitung und Text von Roland Penrose, 272 Seiten, mit 230 einfarbigen und 52 farbigen Aufnahmen Format 26 x 33,5 cm, Halbkunstleder, Preis DM 82,-

Zum erstenmal wird in diesem monumentalen Bildbericht des irischen Photographen Edward Quinn die Einheit von Leben und Werk des größten Malers unserer Epoche vor Augen geführt; wird uns gestattet, dem Schöpfungsakt eines Kunstwerkes Phase um Phase beizuwohnen. Dieses erregende Schauspiel ist der Hauptvorzug eines Werkes, das uns eine der packendsten Künstlerpersönlichkeiten menschlich nahebringt. „Picasso — Werke und Tage" ist die Frucht jahrelanger Zusammenarbeit des großen Malers mit einem Photographen von seltener Einfühlungsgabe. Es stellt eine umfassende Dokumentation über die Arbeitsund Lebensweise des Künstlers dar. Pablo Picasso hat eigens für den Einband und die Titelblätter der einzelnen Kapitel neun Farbstiftzeichnungen geschaffen.

Manesse-Verlag Conzett & Huber, Zürich


Ich habe im folgenden einen bereits veröffentlichten Aufsatz im Netz gefunden und ihn nachbearbeitet, dem Text einige Schleifen und Spitzen genommen, sowie Sätze gestrichen und mich bemüht, dem Kern näher zu kommen.

Kurzfassung

Picasso und Braque nahmen in ihren Werken literarische und musikalische Einflüsse zwischen 1908 und 1914 auf und und setzen sie als Bildzeichen, Zitate, Kurzformeln und bildnerische Kompositionselemente mit ein. Sie überschritten damit die üblichen Kriterien des Stilllebens. Sowohl Braques als auch Picassos Ausdrucksmittel war die bildende Kunst und blieb es auch. Beide Künstler standen in Wechselbeziehung. Gleichwohl nahmen sie begierig Musik und Texte auf. Braques war Geigespieler, In seinen Bildern tauchen die Mandoline, die Klarinette und Flöte, sowie das Schifferklavier auf. Picasso kam in Berührung mit Musik durch das Zitat der Gitarre und Mandoline, und durch seine zeitweilige Lebensgefährtin.

(vt)


Collagen lesen. Musik, Schrift und Realität im Dialog Braques und Picassos

von Reinhard Döhl (gest.2004)

Schrift und Bild / Bild und Musik

Ich möchte im folgenden versuchen, die kubistischen Arbeiten und Collagen Pablo Picassos und des ein Jahr jüngeren George Braque im Spannungsfeld der Künste zu „lesen“, und zwar nicht nur in den Wechselbeziehungen zwischen Schrift und Bild, sondern gleichermaßen in den Wechselbeziehungen zwischen Bild und Musik, sowie in ihrem Bezug zur Realität. Und ich „lese“ sie dabei für die Jahre 1908 bis 1914 als eine Art Dialog, wobei ich mit meiner Lesart ansatzweise den Gedanken verfolge, daß entscheidende Leistungen der Künste im 20. Jahrhundert dialogisch waren.

Die Merzmalerei, notierte Schwitters in einem kleinen Essay gleichen Titels, bediene sich nicht nur der Farbe und der Leinwand, des Pinsels, der Palette, sondern aller vom Auge wahrnehmbarer Materialien und aller erforderlichen Werkzeuge. Dabei ist es unwesentlich, ob die verwendeten Materialien schon für irgendwelchen Zweck geformt waren oder nicht. Das Kinderwagenrad, das Drahtnetz, der Bindfaden und die Watte sind der Farbe gleichberechtigte Faktoren. Der Künstler schafft durch Wahl, Verteilung und Entformelung der Materialien. Das Entformeln der Materialien kann schon erfolgen durch ihre Verteilung auf der Bildfläche. Es wird noch unterstützt durch Zerteilen, Verbiegen, Überdecken oder Übermalen. Bei der Merzmalerei wird der Kistendeckel, die Spielkarte, der Zeitungsausschnitt zur Fläche, Bindfaden, Pinselstrich oder Bleistiftschrift zur Linie, Drahtnetz, Übermalung oder aufgeklebtes Butterbrotpapier zur Lasur, Watte zur Weichheit. Die Merzmalerei erstrebt unmittelbaren Ausdruck durch die Verkürzung des Weges von der Intuition bis zur Sichtbarmachung des Kunstwerkes.

Entsprechend aber hatte Guillaume Apollinaire schon Mitte des Jahres 1912 betont, dass Picasso es zuweilen für nicht unter seiner Würde gehalten habe, authentische Gegenstände: ein Zweigroschenlied, eine wirkliche Briefmarke, ein Stück Wachstuch mit der eingeprägten Rille eines Sessels der Helle anzuvertrauen. Und Apollinaire hatte verallgemeinert: Man kann mit allem Möglichen malen: mit Pfeifen, mit Briefmarken, mit Post- und Spielkarten, mit Kandelabern, mit Wachstuchfetzen, mit Bierschaum, mit buntem Papier, mit Zeitungen.

Wenn auch Apollinaire deshalb heute im Kontext des Kubismus immer noch nicht ernst genug genommen wird, so ist er doch, zusammen mit Max Jacob und André Salmon, ein wichtiger Zeitzeuge, sind seine Angaben im gegebenen Zitat anhand der kubistischen Bilder und Collagen Picassos leicht verifizierbar.

Zugleich stellen zumindest einige Texte Guilleaume Apollinaires, Max Jacobs und natürlich Gertrude Steins durchaus so etwas wie ein literarisches Pendant zum malerischen Kubismus dar. Ich verweise im Falle Gertrude Steins nicht nur auf die "Tender Buttons" oder ihr berühmtes "Wenn ich es ihm sagte. Ein vollendetes Porträt von Picasso".

Im Falle Apollinaires denke ich nicht nur an die "Calligrammes" und "Poemes conversations", sondern auch an die Radierungen Picassos zu "Saint Matorel" aus dem Jahre 1910, die ähnlich wie das "Bildnis Guillaume Apollinaires" aus dem Jahre 1913 durchaus Korrespondenzen andeuten. Auf weitere literarische Bezüge werde ich auf die Bedeutung der Musik vor allem für das Werk Braques eingehen; so dass ich mich jetzt den Bildbeispielen aus den Jahren 1908 bis 1914 zuwenden kann.

 

Musikalische Stilleben

Und dieser Längsschnitt könnte mit einem Stilleben Picassos, mit der "Komposition mit Schädel" aus dem Frühjahr 1908 beginnen. Es geht mir dabei hier und im folgenden nicht um Bild-Auslegung, Fragen der Komposition und ähnliches. Erstens den Totenschädel und damit die Möglichkeit, das Bild in eine Vanitas-Tradition einzuordnen, der sich manches kubistische Stilleben wegen seiner Symbole zuordnen ließe.

Vor allem aber betrifft es die Zuordnung von Malerei und Literatur, denn deutlich werden der in der oberen Bildhälfte dominierend durch Palette, Pinsel und Bild angespielten Malerei links unten ein Bücherstapel, noch einmal zwei einzelne Bücher und ein Tintenfaß mit Federhalter zugewiesen. Dabei ordnet die vertikale Bildordnung Pinsel und Palette dem Tintenfaß mit Federhalter zu, während die Diagonale das Memento mori als Thema bzw. Gegenstand zwischen Bild und Buch platziert.

Im Herbst des gleichen Jahres führt Braque erstmals die Musik in Gestalt von Instrumenten und Notenblatt "Musikinstrumente" in den künstlerischen Dialog mit Picasso ein.

Auch dies wäre in der Geschichte des Stillebens nichts eigentlich Neues, originell allenfalls durch die Bildlösung, die Art, wie hier Klarinette oder Flöte. Mandoline, Notenblätter und Schifferklavier zueinander angeordnet sind. So will es jedenfalls beim ersten Hinsehen scheinen. Und doch gibt es mehr Bemerkenswertes: nicht nur die traditionell unübliche instrumentale Komposition, sondern und vor allem die Tatsache, daß Braque zumindest einen Teil der von ihm immer wieder in seinen Stilleben platzierten Instrumente selbst spielen konnte und spielte, zum Beispiel die Geige.

In seiner Heimatstadt Le Havre hatte er bei Gaston Dufy, dem Bruder des Malers Raoul Dufy, Flötenunterricht genommen. Zwei Atelierfotos aus den Jahren 1911 und 1912 haben ihn beim Spielen des Schifferklaviers bzw. Akkordeons festgehalten. Das erste der beiden Fotos zeigt darüber hinaus weitere Instrumente, unter ihnen, an der Wand hängend, eine Mandoline und eine Geige. Auch ist verbürgt, dass Braque, wenn er in Paris abends nicht in eine Boxhalle oder einen Tanzsaal ging, in seinem Atelier Ziehharmonika zu spielen pflegte. Er kannte also weitgehend den Klang des Instrumentariums seiner Stillleben, und dies sollte nicht unberücksichtigt bleiben angesichts der Dominanz der Musik in seinem Oeuvre.

Dass es Braque primär um das Instrument, möglicherweise seinen Klang zu tun war, und weniger um die Verbindung von Instrument und Instrumentalist wie Picasso, kann ein Vergleich andeuten. Während Braque, in einer Reihe weiterer musikalischer Stilleben, in "Gitarre und Obstschale" im Winter/Frühjahr 1909 eine Gitarre oder Mandoline, Notenblätter und Obstschale immer noch zu einem Stilleben komponiert, führt Picasso im Frühjahr 1909 das Musikinstrument als ein gespieltes in seine Bilderwelt ein. Wobei es ihm bei "Frau mit Mandoline" zugleich um eine Analogie von Instrument und menschlicher Figur (hier des Korpus des Instruments und des Gesichts der Spielerin) geht. Bei der erotischen Einfärbung nicht nur mancher Akte ließe sich sogar fragen, ob sich Picasso des doppeldeutigen jouer de la mandoline bewußt war.

Von derart anthropomorphen Musikinstrumenten kann im Werk Braques nicht die Rede sein, wie zum Beispiel seine "Frau mit Mandoline" leicht einsichtig macht, bei der es um Synthese von Instrumentalist und Instrument geht. Im künstlerischen Dialog Braque/Pisasso wäre dies zugleich die Antwort des ersteren auf die Aufnahme der Musik auch in die Bilderwelt des zweiten. Eine Annahme, die sich ferner mit dem Hinweis stützen ließe, daß die Verbindung von Instrument und Instrumentalist sich in der Folgezeit bei Braque eher selten vorfindet.

Während das Bücherregal hinter der "Frau mit Mandoline" die bereits angesprochene stärkere Bindung des Malers Picasso an die Literatur bestätigt, hat Braque seine Malerei, ebenfalls 1909, in "Geige und Palette" eindeutig mit der Musik verbunden, wobei das zwischen Geige und Palette platzierte Notenblatt, wenn auch noch keine Melodie, so jetzt doch Noten erkennen läßt. Wie bei Picasso der Literatur, ist bei Braque die Malerei im Aufbau des Bildes der Musik übergeordnet. Allerdings hängt die Palette im Hintergrund an einem Nagel - beiseite gelegtes Mittel zum Zweck der malerischen Thematisierung von Musik.

Braques realistisch und mit Schatten gemalter Nagel, den er 1910 in "Violine mit Krug" noch einmal verwendet, diesmal jedoch, ohne seine Palette daran zu hängen, ist von Daniel-Henry Kahnweiler als erste jener realen Einzelheiten benannt worden, in deren Kontext es zu Collage und papier collé gekommen sei.

Ich möchte es vielmehr mit Kahnweilers Einschätzung halten, denn der Schritt von diesem realistisch gemalten Nagel, an den Braque seine Palette hängt, zu jenen konkreten Nadeln, mit denen kurze Zeit später er und Picasso auf ihren Arbeiten Papiere festheften, probeweise, aber gelegentlich auch, ohne sie anschließend zu kleben, was heißt: ohne die Nadeln zu entfernen, dieser Schritt scheint mir handwerklich ähnlich naheliegend und folgerichtig wie der Schritt von der gemalten Holzimitation zur Verwendung einer Holzmaserung vortäuschenden Tapete, wie der Schritt von der Schablonenschrift zur freien Einschrift von Buchstaben, Wortfragmenten oder Wörtern in das Bild und schließlich zum Einkleben kleinerer oder größerer Zeitungsausschnitte.


Einschriften

Einen frühen Beleg freier Einschrift und ein zugleich hintersinniges Zitat bietet Braques "Feuerzeug und Zeitung" noch aus dem Herbst 1909. Hintersinnig dann, wenn man die eingeschriebenen Buchstaben GIL B zu Gil Blas ergänzt, was einerseits einen berühmten französischen Schelmenroman, die "Histoire de Gil Blas de Santillane" aus dem 18. Jahrhundert anspielen könnte, andererseits aber und konkret eine Zeitung beim Namen nennt, in der am 14. November 1908 und noch einmal im Frühjahr 1909 Louis Vauxcelles den Kubisten (wie schon zwei Jahre zuvor den Fauvisten) zu ihrem Schimpfnamen verhalf, und zwar anläßlich einer Ausstellung in der Galerie Kahnweiler, für deren Katalog Apollinaire das Vorwort schrieb.

„Herr Braque ist ein wagemutiger junger Mann. Das irreführende Beispiel Picassos und Derains hat ihn kühn gemacht. Vielleicht beschäftigen ihn auch der Stil Cezannes und die Erinnerung an die statische Kunst der Ägypter über die Maßen. Er konstruiert entsetzlich vereinfachte, deformierte, metallische Männchen. Er verachtet die Kraft, er reduziert alles, Landschaft, Figur, Häuser, auf geometrische Schemata, auf Kuben.“

Ob bereits auf diese erste Kritik oder erst auf die kubistischen Absonderlichkeiten, die Vauxcelles ihm anläßlich seiner Beteiligung an der Frühjahrsausstellung des "Salon des Artistes Indépendants" bescheinigte, reagiert jedenfalls mit diesem Bild Braque, das durch seine Nachbarschaft von Feuerzeug und Zeitung in einer zweiten Leseschicht alles andere als das harmlose Stilleben ist, als das es zunächst scheinen will.

Alvin Martin hat 1982 anläßlich der Ausstellung der papiers collés Braques im Centre Georges Pompidou noch eine weitere Beziehung herstellen wollen, nämlich zu Cezannes "Le père de l'artiste", einem Bild, auf dem Louis-August Cezanne in die Lektüre der Zeitschrift "L'Evénement" vertieft sei, in der er - so der Kommentar Martins - un article d'Emile Zola hätte lesen sollen. Wie immer dem sei, spätestens seit Braques "Feuerzeug und Zeitung" ist also bei dem Zitat von Zeitungs- oder Zeitschriftentiteln mit Kontext zu rechnen, ist zum Beispiel zu fragen, ob es sich bei den Fraktur-Kürzeln für L'Indépendant ausschließlich um den in Titel einer lokalen Zeitung handelt und damit um eine versteckte Ortsangabe der Bilder "Kerzenleuchter" und "Stilleben mit Fächer" von Braque bzw. Picasso, die beide im August 1911 in Ceret entstanden.

Oder ob sich in dem Wortkürzel nicht zusätzlich eine Anspielung verbirgt auf den "Salon des Indépendants", an dem sich Picasso und Braque 1911 zwar nicht beteiligten, ist nicht bekannt, aber dessen Kubistensaal löste einigen Tumult aus.

In dessen Folge werden ihre Namen wiederholt genannt, u.a. als Begründer einer Braque-/Pisasso-Schule.

Eine ähnliche Bewandtnis könnte es mit dem eingeklebten "Figaro"-Zitat haben in Picassos "Vieux-Marc-Flasche, Glas, Gitarre und Zeitung", das sich auch als eine Revanche in Richtung einer Zeitung lesen ließe, die sich wiederholt speziell über Picasso mokiert hatte, u.a. am 3. Oktober 1911 über einen ersten Picasso-Anbeter; die ferner in zahlreichen Karikaturen Abel Faivres, die von Apollinaire gesammelt wurden, die Kubisten nicht nur aufspießte, sondern ihnen auch verbal verbrecherische Extravaganzen vorwarf und ernsthaft vorschlug, sie mit dem großen, vortrefflichen Schweigen zu strafen, dass sie Abscheu verdienten und das zugleich Ausdruck religiöser Ehrfurcht und kluger Verachtung ist.

Und um hier noch einmal auf das "Stilleben mit Fächer" bzw. Braques "Kerzenleuchter" zurückzukommen: auch in ihrem Fall ist die Lesart, daß das Titelzitat einer Lokalzeitung eine versteckte Ortsangabe sei, nicht eindeutig, In anderen Bildern haben wir es dagegen zweifelsfrei mit Ortsangaben zu tun. So ist in "Der Aficionado" links oben Nimes zu lesen, also jener Ort, den Picasso von Sorgues aus eines Stierkampfes wegen besuchte.

In Braques "Obstschale, Flasche und Glas" vom August 1912 ist das Kürzel ORG fraglos zu Sorgues zu komplettieren. Fast vollständig erscheint Le Havre, die Heimatstadt Braques, auf mehreren Arbeiten Picassos, u.a. 1912 auf "Violine, Weingläser, Pfeife und Anker", einem Bild, dessen zahlreiche Einschriften ich noch nicht zur Gänze habe lesen können. Das MA JO im oberen Drittel spielt fraglos "Ma Jolie" an, das rechts unter Avre zu lesende FLEUR deutet aller Wahrscheinlichkeit nach auf den Ort Honfleurs, auf dessen ungefährer Höhe 1843 Leopoldine, die Lieblingstochter Victor Hugos, bei einem Bootsunglück in der Seine ertrank. Diese Assoziation liegt deshalb nahe, weil Picasso - wie das ein Jahr zuvor entstandene "Palette, Pinsel und Buch von Victor Hugo" belegt - mit Werk und Biographie Hugos vertrauter war.

Waren es im Anfang vorwiegend Instrumente und Instrumentalisten, mit denen vor allem Braque die Musik ins Bild setzte, begegnen im Übergang der Jahre 1911/1912 jetzt auch konkretere Zitate, musikalische Genres wie zum Beispiel ein Valse in "Klarinette und Rumflasche auf einem Kamin" oder gar die Ankündigung eines (GRAN)D BAL auf "Le Portugais (Der Emigrant)", einem Bild, das noch weitere, für mich bisher unlesbare Buchstaben und Zahlen aufweist und - wie wir wissen - die Erinnerung Braques an einen portugiesischen Musiker festhält, dem er in einer Bar in Marseille begegnet war und den er wohl auch bewundert hatte.

Noch konkreter werden die Bezüge in Picassos "Frau mit Zither oder Gitarre", einem Bild, dessen Einschrift Ma Jolie den Refrain eines damals populären Chansons anklingen läßt: O Manon ma jolie! / Mon coeur te dit bonjour.

Die wie ein Bildtitel platzierte Einschrift war zugleich die Widmung für Eva Gouel, die Picasso im November 1911 wahrscheinlich kennen und lieben lernte und die bis zu ihrem frühen Tod am 14. Dezember 1915 seine Lebensgefährtin blieb. Mich interessiert hier ausschließlich, daß sich dieses Chanson-Zitat wie ein roter Faden durch die Arbeiten der nächsten Jahre zieht, deutlich lesbar auf dem "Tisch des Architekten", eher versteckt in der schon gezeigten Erinnerung an eine gemeinsame Reise nach Le Havre, "Violine, Weingläser, Pfeife und Anker".

Eine "Violine" getitelte Arbeit von Mai/Juni 1912 redet schließlich Klartext, indem das eingemalte Notenblatt Jolie überschrieben und Eva gewidmet ist. Noch direkter wird einem weiblichen Akt des folgenden Winters J'aime Eva eingeschrieben, und noch im Frühjahr 1914 wird ein Stilleben aus "Pfeife, Glas, Kreuz-As, Bass-Flasche, Gitarre und Würfel" vor einem Notenblatt mit der schablonierten Inschrift MA JOLIE arrangiert. In all diesen Beispielen bleibt auffällig, daß zu einer Zeit, in der Braque und Picasso längst gedruckte Buchstaben, Textfragmente, ja sogar Notenblätter in ihre papiers collés einfügen, die Eva Gouel „gewidmeten“ Arbeiten stets frei oder mit der Schablone geschriebene Buchstaben enthalten und damit - wenn auch in reduzierter Form - handschriftlich zugeeignet sind.

Wie sich im Falle Picassos ein Chansonzitat als musikalische = Melodie, literarische und private Anspielung über Jahre verfolgen läßt, was das Prinzip der Anspielung zu einem Dreifachsinn erweitert - wie sich im Falle Picassos ein Chanson-Zitat, so zieht sich im Falle Braques seit dem Winter 1911/1912 der Name Bach durch das Werk, womit, wie eine erste Schabloneneinschrift signalisiert, stets Johann Sebastian gemeint ist. Einsetzend mit einer "Hommage an J.S.Bach", wechselt Braque allerdings nach "Violine und Klarinette" im Herbst 1912 das Medium, taucht der Name Bach jetzt nurmehr in seinen papiers collés auf: "Nature morte Bach", "Papier collé Nature morte Bach", "Bal" und "Aria de Bach".

Verbunden wird dieser Medienwechsel nicht nur durch den zitierten Namen, sondern auch durch den Wechsel von gemalter Holzimitation zu Holzmaserung vortäuschender Tapete, der so etwas wie eine optische Klammer bildet und zugleich die Frage nach der Bedeutung stellt.

Spielen gemalte Holzimitation und Holzmaserung vortäuschende Tapete die Holztäfelung eines Konzertsaals an bzw. - eher und naheliegender - das gemaserte Holz von Saiteninstrumenten, die ja auf jeder der hier einschlägigen Arbeiten ausschließlich anzutreffen sind?

Zumindest beim zuletzt genannten papier collé scheint zugleich ein konkretes Musikstück gemeint, doch muss auch hier vorerst bei einer größeren Menge Bachscher Ariae offen bleiben, welche Aria Braque konkret im Ohr hatte. Die Vermutung der Literatur, es könne sich hier um die "Aria variata a-moll" (BWV 989) handeln, ist spekulativ, denn in ihrem Fall handelt es sich um ein Klavierstück, was dem von Braque eingezeichneten Saiteninstrument, einer Gitarre, widerspräche, es sei denn, man bezöge das eingeklebte schwarze Tonpapier ein wenig gewaltsam auf Klavier bzw. Konzertflügel (ein wenig gewaltsam schon deshalb, weil das Klavier in der Zeichensprache Braques nicht, wohl aber bei Picasso begegnet).


Ein Spiel mit Namen und Wörtern

Picassos "Stilleben auf einem Klavier" aus dem Frühjahr 1912 interessiert mich allerdings weniger des Instruments, vielmehr der links oben einschablonierten Buchstaben CORT wegen. Hinter ihnen verbirgt sich zweifelsfrei der französische Pianist und Dirigenten Alfred Cortot.

Ob Picasso auch den Wagner-Dirigenten angespielt, muss offen bleiben; mit Sicherheit aber zielt, was auch der Titel des Bildes nahelegt, das Cortot-Zitat auf den hervorragenden Interpreten der Klavierwerke Chopins, Schumanns, Debussys sowie zeitgenössischer Komponisten und damit eine Instrumental- und Klangwelt, der Braque alsbald in einer "Violine" getitelten Arbeit mit dem tschechischen Geigenvirtuosen Jan Kubelik und dem Komponisten Mozart antwortete. Offensichtlich vertrauten in dieser Dialogsequenz beide Künstler darauf, daß ein dem Instrument zugeschriebener Solistenname dem Bild eine zusätzliche Dimension gewinnen könne.

Das ist von Seiten der Rezipienten auch durchaus bestätigt worden, wie zum Beispiel ein Blick in den Katalog einer Braque-Retrospektive von 1982 belegen soll, in dem Francoise Claverie zur Komposition des Braqueschen Bildes festhält.

Die durch rosafarbene Beleuchtung besonders hervorgehobenen Namen ziehen sofort den Blick auf sich und weisen auf eine Welt der Klänge, deren Rhythmus sich durch die Verkettung der Bildpläne mitteilt und einen Tonraum schafft, in dem die Geige widerhallt. Braques Kubelik-Zitat interessiert mich aber noch aus einem weiteren Grunde. Rubin sieht hier nämlich eine Korrespondenz mit einer anderen Arbeit Picassos: zu den „Markennamen“, die Picasso für seine Beschriftungen fragmentierte, gehörte der Brühwürfel KUB, ein Wort mit Doppelsinn, das er zum ersten Mal Anfang 1912 in dem Bild "Bouillon KUB" einsetzte. Braque, der Musikinstrumente in die Ikonographie des Kubismus eingeführt hatte, reagierte in seiner Weise charakteristisch und konterte das Wörtchen KUB mit dem Namen eines Musikers, des Violinisten Jan Kubelik, in dem kurze Zeit später gemalten Bild "Geige". Es mag sein, dass Picasso die Herausforderung annahm und seinerseits die ersten vier Buchstaben des Namens eines anderen Musikers, des Pianisten Alfred Cortot, mit Schablone in sein "Stilleben auf einem Klavier" hineinmalte.

Ich zitiere diese Annahmen Rubins aus zwei Gründen. Zunächst, um zu zeigen, wie genau bei der Rekonstruktion des Braque-Picassoschen Künstlerdialogs auf die Entstehungsdaten der Arbeiten zu achten ist, worauf übrigens auch Rubin hingewiesen hat. Halte ich mich in diesem Fall an die gesicherten Daten, hat Picasso sein "Stilleben auf dem Klavier" bereits im Sommer 1911 in Ceret begonnen, im Frühjahr 1912 in Paris beendet. Braques "Violine" ist dagegen im Frühjahr 1912 in Paris gemalt worden. Es müßte also überprüft werden, wann genau die Cortot-Anspielung in Picassos "Stillleben" eingeschrieben wurde.

Ich möchte mich nach dem Stand der Dinge für die von mir vorgetragene Abfolge entscheiden, also Braques Kubelik-Anspielung als Antwort auf Picassos Cortot-Verweis lesen. Was nicht ausschließt, daß Braque zusätzlich an ein Konzert gedacht hat, das Kubelik ein Jahr zuvor im Rahmen einer Ingres-Ausstellung in der Galerie George Petit gegeben hatte und das von Andre Salmon im "Paris-Journal" als Galavorstellung angekündigt worden war:

Vor den hier ausgestellten Werken des berühmten Malers wird Kubelik auf Ingres' Violine jene Stücke spielen, die der Maler besonders mochte.

Ich halte es aber für durchaus wahrscheinlich, dass sich Braque angesichts der Cortot-Einschrift Picassos an dieses Konzert erinnerte, was seinem Bild, worauf bereits Mark Roskill hingewiesen hat, eingedenk der Häufigkeit, mit der er selbst diesem Hobby nachging, eine zusätzliche Bedeutungsdimension eröffnet. Denn „violon d'ingres“ bedeutet auch Steckenpferd, Liebhaberei und ist in diesem Sinne wahrscheinlich schon damals geläufig gewesen.

Im übrigen wäre ein solches Bilderspiel bei Braque kein Einzelfall, hat er doch zum Beispiel in seinen papiers collés mehrfach auf sich als Geigenmaler verwiesen. Wobei er einmal sogar den Gegenstand ganz ausspart, ihn vielmehr nur wörtlich (= VIOLON) in Verbindung mit angedeuteten Notenlinien anspielt.

Diese Aussparung des Gegenstandes in "Glas, Flasche und Zeitung" könnte im Dialog mit Picasso zugleich als Antwort verstanden werden auf die Obsession, mit der sich inzwischen auch der Freund der Geige bemächtigt hatte. Zunächst im Dialog und Braque zitierend, zum Beispiel im Frühjahr/Sommer 1912 in "Violine und Weintrauben", dann im Kontext der papiers collés und der Reliefbilder auch innovativ, zum Beispiel in der "Komposition mit Violine" oder in einem entsprechenden Modell „Violine", zwei offensichtlich miteinander verwandten Arbeiten.

Das links oben eincollagierte Fragment italienischer Provenienz ist aus der Zeitschrift "Lacerba", die 1913 von dem futuristischen Schriftsteller, Künstler und Kritiker Ardengo Soffici in Florenz begründet und mit herausgegeben wurde.

Soffici, der von 1900 bis 1907 in Paris gelebt hatte und danach immer wieder einmal dorthin zurückkehrte, war mit Apollinaire befreundet und ging in den Ateliers von Picasso aber auch Braque ein- und aus, vermittelte vor allem durch die Zeitschrift "Lacerba" die Ideen der Kubisten nach Italien und ist, neben Severini, zugleich der Vermittler zwischen italienischem Futurismus und französischen Kubismus, so dass das bei Braque versteckte, bei Picasso ("Pfeife, Weinglas, Zeitung, Gitarre und Vieux-Marc-Flasche" offensichtliche "Lacerba"-Zitat eine einfache Erklärung findet. Soffici sah übrigens den Unterschied der beiden Künstler deutlich, wenn er von der stummen Gewalt Picassos im Gegensatz zu Braques musikalischer Ruhe sprach, die leicht und zugleich von gemessener Strenge sei.

Tristan Tzara hat 1931 in "Die Collage oder das Sprichwort in der Malerei" die Kubisten mitbedacht, als er schrieb, daß eine aus einer Zeitung ausgeschnittene Form, die in eine Zeichnung integriert werde, etwas allgemein gültiges beinhalte, ein Stück täglicher, geläufiger Wirklichkeit im Vergleich zu einer anderen. geistvoll konstruierten Wirklichkeit. Nicht bedacht hat Tzara dabei, daß diese von den Kubisten zitierten alltäglichen Wirklichkeiten in Dialog und Hintersinn durchaus geistvoll konstruierte, ästhetische Wirklichkeiten werden konnten.

Bereits 1913 hatte Apollinaire in einem Vortrag in der Berliner Galerie "Der Sturm" für das Einführen von Buchstaben, Wortfragmenten in die Bilder der Kubisten festgehalten: „Buchstaben von Schildern und anderen Inschriften seien deshalb aufgenommen worden, weil in der modernen Stadt die Inschrift, das Schild, die Reklame eine sehr wichtige künstlerische Rolle spielen und geeignet sind, in das Kunstwerk aufgenommen zu werden“.

Der durch Max Ernst populär gewordene Befehlssatz, „nach dem sich Schönheit aus der zufälligen Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Operationstisch ergebe“ war eine Konstruktion der Surrealisten.

Hinzu kommt zweitens, dass Picasso mindestens noch einmal in ein Bild KUB eingeschrieben hat, nämlich im Juli 1912 in eine "Landschaft mit Plakaten", die dann als Antwort Picassos auf Braques KUBELICK-Einschrift verstehen müßte.

Das Leben war angenehm, angenehmer als in Collioure, wo Matisse, ein entschiedener Gegner der Kubisten, plötzlich eine böse Überraschung erlebte, die ihm seine Ferien gründlich verdarb. In riesigen Lettern stand eines Tages auf allen Mauern das Wort KUB. Das genügte, wie Apollinaire behauptete, um den Maler in Weißglut zu bringen, und er konnte sich auch nicht beruhigen, als man ihm erklärte, daß der Reklameagent, der auf diese originelle Weise für die Produkte einer Nährmittelfirma mit der Schutzmarke KUB warb, ganz gewiß kein Parteigänger Picassos war. Apollinaire verarbeitete diese kleine Geschichte, fantasievoll aufgebauscht, zu einer Glosse für den "Mercure".

Atelierwirklichkeit und Café - Barmilieu


Wenn über die Collagen Picassos und Braques gesprochen wird, erwartet man zurecht zwei Werke, gleichsam die Buch-Urschriften dieser künstlerischen Entwicklung: Picassos "Stilleben mit Rohrstuhlgeflecht" aus dem Mai 1912 und Braques erstes papier collé "Obstschale mit Glas" aus dem September des gleichen Jahres. Picassos aufbewahrtes "Stilleben" kam damals einer Sensation gleich.

Wobei die Pointe darin besteht, dass diese ins Bild eingebrachte Wachstuchdecke, ihrerseits in schönster Trompe-l'oeil-Tradition das Rohrstuhlgeflecht eines Stuhles vortäuscht, die zitierte Realität sich also wiederum illusionistisch aufhebt, oder aber als eine Wirklichkeit, die nur Schein ist, zitiert.

Ein weiteres Bildzeichen der beiden Künstler war das Bildelement Pfeife, das in typisch kubistischer Manier von mehreren Seiten zugleich gesehen ist: Pfeifenkopf von oben, durch einen weißen Kreis markiert, der Pfeifenstiel perspektivisch. Dabei interessiert mich diese Manier weniger als die Tatsache, daß die Pfeife ein immer wieder auf den Arbeiten Picassos und Braques anzutreffendes, gemaltes oder aus Papier eincollagiertes Requisit ist und zugleich ein Selbst-Zitat. Denn beide Künstler waren, wie Fotos belegen, wenigstens zeitweilig Pfeifenraucher, so daß die Pfeife auch als eines der vielen, in den damaligen Arbeiten anzutreffenden Atelierrequisiten zu lesen ist.

Die Künstler pflegten also eine vertraute Beziehung zu diesen Gegenständen des mehr geselligen Milieu der Cafés und der Bars, die allesamt zu berühren, zu benutzen und ebenso zu betrachten sein mußten. Dies floss in die Atelierwelt der Zeichensprache der beiden Künstler mit ein.

Das zweite Bildelement, auf das ich hinweisen möchte, ist das eingeschriebene JOU. Waren es in den bisherigen Beispielen, und sie stehen für den ganzen Zeitraum von 1909 bis 1914, konkrete Zeitungen, die aus zumeist auffindbaren Gründen als fragmentierte Titel zitiert wurden, tritt ihnen spätestens seit 1912 auch das Kürzel für Journal an die Seite, und zwar in unterschiedlicher Fragmentierung als JOU, LE JO, URNAL, RNAL, LE JOUR und NAL, wobei Picasso diese Kürzel meist einklebt, Braque sie hingegen eher einschreibt.

Von einer dem mehr geselligen „Milieu der Cafés und der Bars“ entlehnten Bildzeichensprache liesse sich bei Braques erstem papier collé "Obstschale mit Glas" sprechen. Die oben rechts und links unten eingeschriebenen Wörter BAR und ALE signalisieren dies deutlich. Daß es sich im Falle von ALE nicht um ein aufzufüllendes Kürzel, sondern um englisches Bier handelt, ist schon deshalb naheliegend, weil Braque und auch Picasso in andere hier einschlägige Arbeiten relativ häufig BASS eingeschrieben haben, was nun wiederum nicht auf Musik, sondern ein von ihnen offensichtlich bevorzugtes englisches Lagerbier verweist.

Ein etwa gleichzeitig entstandenes Bild "Obstschale", das von der Komposition her und wegen des Bildelements Weintraube Braques erstem papier collé durchaus vergleichbar ist, macht dabei leicht einsichtig, wie ein Sprachelement die ganze Bildaussage bestimmen kann. Barmilieu dort (Bar, ALE), Cafemilieu bzw. Stilleben mit Zeitung hier, wenn man das Wortkürzel zu QUOTIDEN DU MIDI ergänzt. (Übrigens gilt, was ich schon bei den Bach zitierenden Arbeiten anmerkte, auch hier: der Wechsel von mit dem Pinsel imitierten Holz "Obstschale" zu eingeklebter Holzmaserung vortäuschender Tapete "Obstschale mit Glas".

Zum Beispiel, wenn ich Picassos papier collé "Gitarre, Notenblatt und Glas" ansehe. Denn hier sind auf einer Tapete so verschiedene Dinge wie ein gedrucktes Notenblatt, ein gezeichnetes Glas, farbige Papiere, faux bois, sowie ein Zeitungsauschnitt versammelt, was ja schon System sprengend genug wäre, gesellt sich hier doch der Zeichnung die Musik und das gedruckte Wort hinzu, allenfalls verbunden durch die Klammer -bild: Zeichenbild. Notenbild, Schriftbild. Und das nicht ohne Widersprüche. Denn das Notenbild ist aus einem Lied mit Klavierbegleitung, das Instrument aber ist in seiner angedeuteten Kontur eine Gitarre. Das Lied scheint ein eher sentimentales Chanson und entspräche keineswegs der Bataille, von der die Überschrift des Leitartikels spricht.

Vielleicht kommt man am weitesten, wenn man dieses als eine wechselseitige Verfremdung, ein wechselseitiges Fremdmachen der Elemente versteht

Das Material stellt der Künstler zusammen, die Widersprüche muss der Betrachter auflösen und entscheiden, was für eine Bataille denn mit Picassos papier collé eröffnet ist: die zwischen den Materialien der Vorlagen, die der Balkankriege, auf die sich die Schlagzeile ursprünglich bezog, die Bataille zwischen Künstlern und Kritikern des Kubismus oder eine private Auseinandersetzung der beiden Künstlerfreunde auf dem Felde der papiers collés.

In einem anderen Fall sind zwei Zeitungsausschnitte einmal einem farbigen Papier als Farbe zugeordnet, zum anderen bezeichnen sie treffend die Holzmaserung vortäuschenden Papiere Braques, ein Effekt, der sich schon auf der Collage "Vieux-Marc-Flasche, Glas, Gitarre und Zeitung" ablesen ließ.

Natürlich experimentiert Picasso auch mit gedrehten Zeitungsausschnitten neben- und miteinander.

In einem weiteren Fall, den zwei zusammengehörenden papiers collés "Flasche, Tasse und Zeitung" bzw. "Tisch mit Flasche, Weinglas und Zeitung", deuten einmal die beiden eingeklebten, partiell lesbaren Zeitungsausschnitte spielerisch das Flaschenetikett an. Zum anderen kontrastieren sie durch das lesbare LITRE D'OR bzw. UN COUP DE THE dem eingezeichneten Gegenstand und leisten damit das “Fremdmachen der Elemente“.

Daß bei derart intensivem künstlerischem Umgang mit Zeitungen die Zeitung schließlich auch als Bildträger herhalten mußte, liegt auf der Hand. In diesem Zusammenhang wird gerne auf den "Männerkopf mit Schnurrbart" verwiesen, doch scheint mir wegen der Verbindung von aufgeklebtem Papier und Kohlezeichnung die "Flasche auf einem Tisch" wesentlich interessanter.

Wobei mich die rechts neben dem Flaschenhals zwar auf dem Kopf stehenden, aber deutlich lesbaren ECHOS besonders interessieren. Denn sie lassen sich nicht nur - ihrem Erscheinungsort entsprechend - als Lokales, als Lokalnachrichten lesen, sondern auch - eben durch ihr Aufdemkopfstehen - als Echo, Widerhall, Schatten- oder Geisterbild und, was echo noch alles bedeuten kann, verstehen.

Was sich sogar auf die Kohlezeichnung beziehen ließe derart, daß man den Flaschenumriß als Geisterbild, Widerschein einer Flasche deutet.

Hier verfährt der 'musikalische' Braque ein halbes Jahr später sogar noch eindeutiger, wenn er in "Klarinette" den Zeitungstitel "L'ECHO D'ATHENES" zu L'ECHO D'A fragmentiert und damit ein musikalisches Sprachspiel findet: L'ECHO D'A = LE CODA.

Diese Arbeit Braques ist für mich zugleich ein weiterer Beleg dafür, daß es Braque bei seinem ikonographischen Instrumentarium auch um den Klang ging, auf den in diesem Fall nicht nur der Ton a und sein Echo verweisen, sondern auch die Klarinette, für die zwar am gebräuchlichsten die B-Stimmung ist, die aber auch in C- und A-Stimmung hergestellt wird.

Während Braques "Violine" mit dem eingeschriebenen Wortkürzel LODIE ein weiteres Mal sein Interesse an der klanglichen Dimension seiner Arbeiten betont, hatte Picasso mit MA JOLIE zwar ein Chanson zitiert, in seine papiers collés - und dabei viel radikaler als Braque - sogar größere Teile von Notenblättern eingefügt, zum Beispiel in "Notenblatt und Gitarre", oder noch radikaler in einer Arbeit des Musée Picasso, "Geige mit Notenblatt", die man praktisch vom Blatt spielen könnte.

Während Braque immer wieder die klangliche Dimension seiner Arbeiten betont, hat Picasso zwar Musikstücke regelrecht und konkret zitiert, aber es ging ihm dabei weniger um die fremde Kunstart als solche, vielmehr entweder um die Erstellung eines persönlichen Bezugs bei „MA JOLIE“ oder um die grafische Qualität eines Notenblatts, seine materiale Eignung für das Experiment papier collé.

Berücksichtigt man nämlich die wenigen Wörter auf dem eingeklebten Notenblatt, beginnt die zweite Zeile mit morts. Und ich halte es für keine Spitzfindigkeit, hier „Stillleben“ zu assoziieren.

Anders als im Falle Braques habe ich für Picasso auch keine Fotobelege finden können, die ihn mit der Musik und ihren Instrumenten in Verbindung gebracht hätten mit der Ausnahme eines Fotos aus dem Winter/Frühjahr 1912/1913, das eine Gitarre zeigt, die vor der abstrakten Zeichnung eines Spielers aufgehängt ist, der diese Gitarre mit aus Zeitungsstreifen angedeuteten Armen spielt. Auf dem davor stehenden Tisch ist ein übliches Stilleben angerichtet.

Diese in ihrer Radikalität wahrscheinlich einmalige Atelier-Installation Picassos führt weiter zu einer Frage, die heute geklärt zu sein scheint. Über lange Zeit hatte die Forschung angenommen, daß die zahlreichen Papierkonstruktionen und Reliefbilder von Musikinstrumenten in Picassos Oeuvre eine Folge oder Weiterentwicklung der papiers collés seien.

Neuerdings gilt als wahrscheinlich, daß den papiers collés Modelle voraus gingen, daß zum Beispiel Picassos Maquette "Gitarre" erst zu den Gitarren der papiers collés führte, was - den damaligen künstlerischen Problemen Picassos und Braques durchaus entsprechend - eine Übertragung aus der Dreidimensionalität in die Zweidimensionalität des Bildes wäre. Eines von mehreren hier aufschlußreichen Atelierfotos zeigt diese Maquette im Kontext mit sieben einschlägigen papiers collés.

Allerdings ist auch hier der Erfinder wiederum Braque, der aber seinen Papier- und Pappekonstruktionen offensichtlich nur Modellfunktion und keinen eigenen künstlerischen Wert beimaß, so daß sich nichts erhalten hat. Ein einziges Foto einer späteren Papierkonstruktion aus dem Jahre 1914 hat nur geringen Wert.


Nachträge

Die Gegenstände der Stilleben bieten damit ein Spektrum, das von ihren traditionellen Inhalten über die Gegenstände des täglichen Gebrauchs bis zum einfachen Handwerkszeug reicht. Die Arbeiten Braques und Picassos in den Jahren 1908 bis 1914 thematisieren zunehmend nicht mehr nur Gegenstände der Malerei, deren erneute ästhetische Diskussion den Beginn ihres Dialogs bestimmte, sondern der künstlerische Dialog bezieht zunehmend die Welt der Ateliers und des Alltags mit ein.

Wenn in der Literatur geklagt wird, daß die erhaltene Korrespondenz der beiden Künstler so wenig gedanklichen Austausch enthalte, wäre zu antworten, dass in diesen Jahren einmal das Gespräch, der mündliche Austausch eine zentrale Rolle spielte, daß zum anderen die erhaltenen Arbeiten, in ihrer richtigen Chronologie gelesen, durchaus so etwas wie Bild gewordenes Gespräch und Ateliertagebuch in eins sind.

So wie mehrere Arbeiten Picassos den Besuch von Stierkämpfen als eines seiner Freizeitvergnügen thematisieren, verweist Braques "Schachbrett auf den gemeinsamen Spaß am Kino, wobei das Programmangebot „Cowboy Millionaire“ auch als Hinweis auf die Vorliebe gelesen werden kann, die Braque und Picasso vor allem für Wildwestgeschichten entwickelten.

Picasso hat nicht nur 1911 ein Bild mit dem Titel "Buffalo Bill" gemalt, er hat auch nachweislich größere Mengen hier einschlägiger Heftchenliteratur verschlungen. Sie scheint damals seinen Interessen mehr als anspruchsvolle Literatur entgegengekommen zu sein, auch wenn sein "Palette, Pinsel und Buch von Victor Hugo", sein Apollinaire- oder schon vorher das Gertrude-Stein-Portrait, seine Illustrationen zu Max Jacob oder "Weinglas und Kreuz-As" anderes andeuten wollen. Der hier zitierte Prospekt für Jacobs ersten Gedichtband "La Cote" besagt noch nicht, daß Picasso ihn gründlich gelesen hat, wie denn auch seine nachweislichen Lektüren und seine eigene, dann allerdings bemerkenswerte Schriftstellerei erst später datieren.

Wenn ich eingangs sagte, dass im Gegensatz zu Braques Bindung an die Musik, Picasso sich eher auf Literatur bezogen habe, ist dies kein Widerspruch, sondern will nur besagen, daß für Picasso die Verbindung von bildender Kunst und Literatur als Schwesterkünste naheliegender war als eine Verbindung von bildender Kunst und Musik.

Um letztere war es dem auch konkret musizierenden Braque zu tun. Dabei ist bezeichnend, daß er sich von Picassos bildnerischen Hinweisen auf Literatur nie anregen ließ; daß der genialische Picasso dagegen, sobald er die Fruchtbarkeit der Verbindung Kunst und Musik für die Malerei und später die papiers collés erkannt hatte, sich diese Verbindung sofort ästhetisch-formal zu eigen machte, stets auf der Suche nach neuen Artikulationsmöglichkeiten und besessen von seiner Obsession des Findens.

Der eigentliche Erfinder war Braque, der mit den Mitteln des Handwerkers (er war gelernter Anstreicher) die Malerei in Reichweite persönlichen Begabungen brachte, und entsprechend auch nie versuchte, zu malen, was er wollte, sondern stets nur - wie er selbst betont hat - was er „konnte“.


Zwei Braque-Zitate führen zu einigen abschließenden Überlegungen.

Das erste:

„In jener Zeit malte ich häufig Musikinstrumente: erstens hatte ich viele um mich, und zweitens paßte ihre Form und ihr Volumen in den Bereich des Stillebens, wie ich es mir vorstellte. Ich war bereits auf dem Wege zum greifbaren, oder wie ich zu sagen pflegte, handgreiflichen Raum, und das Musikinstrument hatte als Objekt die Besonderheit, daß es durch Berührung belebt werden konnte“.

Das zweite:

„Wenn das Mysterium fehlt, fehlt auch die Poesie, die Eigenschaft also, die ich vor allem in der Kunst schätze [...]. Für mich geht es dabei um Harmonie, um Übereinstimmung, um Rhythmus - und für meine eigene Arbeit am allerwichtigsten - um Metamorphose. Es ist mir gleichgültig, ob eine Form für verschiedene Menschen verschiedene Dinge darstellt oder vieles gleichzeitig oder gar nichts; sie mag vielleicht ein Zufall sein oder eine 'Melodie', wie ich sie manchmal gern meiner Komposition einverleibe“.

Darf man im Falle Braques davon sprechen, dass seine Bilder nicht mehr nur Musik (in welcher Form auch immer) abbilden bzw. darstellen, sondern versuchen, Musik auch als Klang zu fassen und sich damit in Richtung der Musik zu entgrenzen, ist dies in Richtung der Literatur so nicht gegeben.

Konzeptuelle Wirklichkeit

Die in den kubistischen Bildern oder Collagen zunächst begegnende Schrift scheint auf den ersten Blick sprachlich außer Funktion gesetzt, sollte zunächst wohl der wahrnehmbar gemachten Sprache entzogen, vielmehr als Teil des Bildganzen innerhalb dieses Bildganzen gesehen werden.

Dennoch spielen diese plötzlich ins Bild geratenen Schriftzeichen, wenn auch nur in Ansätzen 'zitierend' auf etwas Außerbildliches, nämlich die Sprache an.

Rosenblum und Wissmann haben dies aus der Mehrdeutigkeit des Materials erklärt.

Das hatte Tzara im Ansatz durchaus erkannt, als er Picassos papiers collés „Sprichwörter in der Malerei“ nannte und ihnen bescheinigte, sie bedeuteten etwas Ähnliches wie die Verwendung von Allgemeinplätzen und fertigen Sätzen in der Dichtung. Wobei ein Vergleich mit Sprichwortbildern nicht uninteressant scheint, die allerdings den zugrunde liegenden Text völlig ins Bild übersetzen.

Den radikalen Schritt der Schwitterschen MERZkunst vollziehen Braque und Picasso (noch) nicht, der mit Schwitters Worten darin besteht, Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammenzukleben, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt, wie umgekehrt Bilder und Zeichnungen zu kleben, auf denen Sätze gelesen werden sollen.

Die von Apollinaire 1918 in "L'Esprit nouveau et les Poetes" erstmals prognostizierte Synthese der modernen Künste, das MERZunternehmen Kurt Schwitters seit 1919 standen noch nicht zur Diskussion.

Noch ging es ausschließlich um eine Neubestimmung der Malerei und dabei auch um grundlegende Neuerungen. Mit denen aber waren Braque und Picasso bereits auf dem Weg, die Grenzen der Kunstarten zu öffnen.

Bei dieser Erfindung und nicht nur spielerischen Erprobung der Möglichkeiten der „papiers collés“ kam aber neben der Musik und Literatur noch ein Drittes zum Tragen, das Wissmann die „Integration der Realität ins Kunstwerk“ genannt hat.

Illusionswirklichkeit ist nicht zitierte Realität, eine Rasierklinge und eine Aria von Bach unterscheiden sich wie Zweck und Sinn, Atelierwirklichkeit ist eine andere Wirklichkeit als die fiktive Welt Hugos oder die Klangwelt der Musik, ein Chanson klingt und funktioniert anders als der violon d'Ingres' und so fort.

Diese unterschiedlichen Wirklichkeiten in die ästhetische Realität der Arbeiten hinein umgesetzt zu haben, scheint mir neben den Grenzerkundungen in Richtung Musik und Literatur die dritte zentrale Leistung der kubistischen Collagen und Bilder Braques und Picassos zu sein.



Youtube zu Picasso:

Henri Matisse

Georges Braques



Ein seitlicher Link sei noch eingebracht und ich folge dem Rat einer sehr guten Freundin.

  • http://de.wikipedia.org/wiki/Erik_Satie
  • http://de.wikipedia.org/wiki/Ballets_Russes Berühmte Bühnen- und Kostümbildner der Balletts Russes waren der vom Jugendstil inspirierte Leon Bakst und der mehr zur klassischen Ausgewogenheit neigende Alexandre Benoîs. Mit ihrer gesamten Aufführungsästhetik standen die Ballets Russes unter dem Einfluss des russischen Symbolismus. Den mechanistischen Kunsttendenzen des Jahrhundertbeginns wurde hier ein schwelgerisch üppiger, am Ausdruck von Emotion orientierter Stil entgegengesetzt.

Vaslav Nijinskys Choreografie zu Le Sacre du Printemps dagegen, die 1913 für die Ballets Russes entstand, wies über diesen Rahmen schon weit hinaus. Beim Publikum, das an die Bewegungen des klassischen Balletts oder der Handlungsballette des 18. Jahrhunderts gewöhnt war, löste sie einen Skandal aus und gilt mit ihren geometrisch-abstrakten Tanzfiguren gemeinhin als Beginn der Ballettmoderne. Auch Nijinskys Choreografie zu L'Après-midi d'un faune nach der Musik von Claude Debussy setzte mit der Direktheit der Darstellung neue Maßstäbe.

1914 wandte sich Djagilew von der Sankt Petersburger Schule ab und begann die Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern zu fördern - es entstanden Ballette mit starker Betonung des Bühnenbilds. Léonide Massines Arbeiten wie z.B. Parade sind hiervon deutlich geprägt: Jean Cocteau, Eric Satie und Pablo Picasso schufen hier für Libretto, Musik und Bühnenbild. Bei Zéphyr et Flora war Vladimir Dukelsky (Vernon Duke) für die Musik und Georges Braque für die Bühnenausstattung verantwortlich.

Siehe auch:

Zitat: „Ich glaube, dass Bilder geboren werden wollen. Sie wählen mich, wenn ich ihnen geeignet erscheine, sie sichtbar zu machen.“



Bild: Pic_MaJolieEvaGouel.bmp
: (1911/12)

Ich bin zur Ansicht gekommen, dass Kunst sehr wohl dialogisch sein kann, und innerlich nachgefühlte als auch aktiv gespielte Musik deutlich den kreativen Prozess beinflussen und fördern kann. Es lebt sich anders.

Reinhard von Tümpling, im April 2009