Materialsammlung
und Unterrichtssequenz zum Lernbereich 12.2 Kommunikation
1.
Wie
wird ein gewöhnliches Ding zur Kunst?
von Uli Schuster 2010 |
Der neue Lehrplan
für die Oberstufe des G8 in Bayern sieht in 12.2 eine Auseinandersetzung
mit dem Themenfeld "Kommunikation" vor. Die Schüler sollen
alltagsästhetische Phänomene und Kunstwerke als Teile komplexer
Kommunikationsprozesse in der Gesellschaft begreifen. Dazu lernen sie unterschiedliche
Kommunikationsstrategien vor allem von Künstlern des 20. Jahrhunderts
zu verstehen. Dabei kommen Kunstgeschichtliche Positionen der klassischen
Moderne und des 20./21. Jahrhunderts zur Sprache, die einen Eindruck vermitteln
von Affirmation bis Kritik, die geprägt sind von Provokation, Überwältigung
oder/und poetischer Verklärung, denen es um Erweiterung bis Entgrenzung
des Kunstbegriffs geht und um Autonomie der Gestaltung bis hin zur Ausschaltung
von Kritik.
Die nachstehende Unterrichtssequenz möchte in drei abgeschlossenen Einheiten Beispiele geben, die in diesen Rahmen passen. Neben den uns zur Verfügung stehenden Schulbüchern befragen wir auch spezifischere Quellen zum jeweiligen Autor oder Problemfeld. Die Unterrichtssequenz ist auf drei getrennte Adressen verteilt. 1. Wie wird ein gewöhnliches Ding zur Kunst? Überlegungen zu Ready-mades von Marcel Duchamp führen zur Einsicht in strategische Positionen von Künstlern. Dabei wird sichtbar, wie die Kunstausstellung, die Kunstkritik, das Museum zu Instrumenten der Kunstproduktion werden können und eine Definitionshoheit erlangen über das, was als Kunst kommuniziert wird. |
Wie
wird ein gewöhnliches Ding zur Kunst?
Zwischen 1913 und 1917 experimentiert ein Franzose mit "Objekten", die er aus Gebrauchsgegenständen montiert, bzw im Kaufhaus erwirbt, Marcel Duchamp. Beim ersten dieser Experimente montierte er 1913 das Vorderrad eines Fahrrades in einer geraden Gabel umgekehrt auf einen gewöhnlichen Küchenhocker. Das Objekt zeigt ein Interesse an Kinetik. Die Drehbewegung und ihr Schattenspiel bei Projektion scheinen ein Anlass für diese Bastelei gewesen zu sein. "Es war nicht zum Ausstellen gedacht"..."es war einfach nur für meinen eigenen Gebrauch." ( Duchamp zitiert in Tomkins S.160 aus einem Interview mit dem Verfasser) Dem Fahrrad-Rad folgte 1914 ein Flaschentrockner, den er ebenfalls aus 'rein ästhetischen Gründen' in einem Kaufhaus erwarb und in seinem Atelier verstauben ließ. Zwei Jahre später kam ihm in New York die Idee, aus diesen Dingen eine Art neuer Kunst zu machen. Zum ästhetischen Reiz gesellte sich ein intellektuelles Vergnügen. Er prägte dafür den Begriff Ready-made. An dem uns bereits bekannten Beispiel von Duchamps 'Fountain, 1917' wollen wir untersuchen, wer welchen Anteil daran hat, wenn ein gewöhnliches Ding zu Kunst werden kann. Duchamps Ready-mades prägen ein Kunstverständnis, das erst in den 60er Jahren des 20. Jh in der Pop-Art und später in der Konzeptkunst eine größere Resonanz findet und dann auch in die Kunstgeschichtsschreibung eingeht. |
Auf der Suche nach Abbildungen von Duchamps "Fountain" finde ich eine "historische Fotografie" von Alfred Stieglitz aus dem Jahr 1917. Diese oft zitierte Abbildung existiert bereits 1917 in unterschiedlichem Zuschnitt, einmal wie hier den Sockel betonend durch ein hohes Format, einmal etwas flacher, wie in der Zeitschrift "The Blind Man", stets jedoch in s/w-Reproduktion. Sie wurde bei <Nerdinger> (s.u.) so beschnitten, dass ein bei H.H. Mann zu sehendes Podest oder ein Sockel, wie auch ein links angebundener Packzettel unsichtbar wird, die Beschneidung im <Kammerlohr> (s.u.) fällt etwas geringer aus, dafür bietet dieses neue Schulbuch als Farbe den Braunton einer alten Fotografie, den ich bislang noch nirgends so fand. Die Aufnahmen scheinen ansonsten identisch; Objekte und Hintergründe gleichen sich in diesen Bildern, der bei Nerdinger besprochene "Sockel", auf den Duchamp das Objekt gestellt haben soll, ist nur bei Mann gut zu sehen und, wie auch das Objekt selbst, etwas aus der Symmetrie gerückt. Über die Höhe dieses Sockels lässt sich nur spekulieren: Der Fotograf suggeriert eine Augenhöhe mit dem Objekt. Demgegenüber handelt es sich bei der Abbildung aus dem <Grundkurs Kunst 2> möglicherweise um ein anderes Objekt, aus einem anderen Blickwinkel, ohne erkennbaren Sockel vor einem anderen Hintergrund in Farbe fotografiert. Der Schriftzug scheint leicht versetzt zu sein und die Anordnung der Ausflusslöcher differiert möglicherweise. Wenn auch durch die Verschattung der Fotografie von Stieglitz hier eine Aussage schwer fällt. Mit einiger Sicherheit unterscheiden sich beide Objekte von dem, das im Haus der Kunst ausgestellt war. Bei diesem Objekt bilden die Ausflussöffnungen am Tiefpunkt des Beckens einen Kreis und es fehlt auch eine Profilierung des Beckenrands. Andererseits imitiert der Schriftzug recht ähnlich die Aufschrift auf dem Objekt, das Stieglitz fotografierte. Bleibt die Frage nach dem "Original" und der Verdacht, dass es sich bei Fountain um eine Art Auflagenobjekt handelt, wie etwa bei vielen von Rodins Plastiken. Die Legenden in <Grundkurs Kunst 2> und bei Nerdinger liefern in verschiedenen Worten eine Erklärung: Bei dem hier gezeigten Objekt handelt es sich um eine "Replik" aus dem Jahr 1964, während das von Stieglitz fotografierte Objekt bei <Nerdinger> als "verschollen" bezeichnet ist. In seiner formalen Substanz gleicht das Objekt einem Fabrikat aus dem Sanitärhandel (z.B. laut wikipedia: Standardmodell „Bedfordshire“ der Firma J. L. Mott Iron Works aus New York City), das fachlich auch als Urinal bezeichnet wird, aus Porzellan gegossen ist und in Männertoiletten in zahllosen Varianten auch heute noch zu finden ist, für Männer, die lieber im Stehen als im Sitzen ihr Wasser lassen wollen. Vielleicht ist es erwähnenswert, dass derartige Urinale um 1900 in Mode kamen, und möglicherweise rührt Duchamps Interesse für das Objekt daher, dass ihm dieses amerikanische Kulturgut aus seiner französischen Heimat noch nicht geläufig war, wo das Pissoir üblicherweise noch eine Pinkelrinne war. In "The Blind Man II"(s.u.) macht sich Duchamp lustig über die Überlegenheit der Kunst Amerikas: "The only works of art America has given are her plumbing and her bridges." Rhonda und Roland
Shearer gingen der Frage nach, woher Duchamp seinen legendären "Springbrunnen"
hatte und vergleicht das von Stieglitz dokumentierte Exemplar mit historischen
Abbildungen aus zeitgenössischen Sanitärkatalogen. Dabei entwickeln
sie die These, dass das von Stieglitz abgebildete Exemplar weder von der
Firma Mott Works hergestellt, noch von ihr vertrieben wurde.
http://www.toutfait.com/issues/issue_3/Collections/rrs/shearer.htm
Die zahlreichen Repliken,
die in mehreren westlichen Museen zu finden sind gehen in der Hauptsache
zurück auf Arturo Schwarz, einen Mailänder Galeristen, der sich
1964 eine nicht ganz klare Anzahl von Duchamp signieren ließ, wiederum
mit dem Schriftzug, den auch schon das von Stieglitz abgebildete Objekt
trug. Am 10./11.2.2007 berichtet die SZ von einem Attentat auf eine Replik
von Fountain im Pariser Centre Pompidou. Für seine Beschädigung
mit einem Hammer am 4.1.2006 musste Pierre Pinoncelli 14 352 Euro Strafe
zahlen. Der Wert der Replik wurde auf 2,8 Millionen Euro geschätzt.
Die Replik stammt aus der Serie von Arturo Schwarz (s.u.).
Im Bild ist zu sehen, dass "Springbrunnen" keinen Wasseranschluss besitzt, also nicht gebrauchsferig ist und sozusagen 'auf dem Rücken' liegt. Alle Fotografen scheinen sich darüber verständigt zu haben, dass es von dieser "Plastik" eine Hauptansicht gibt, man sieht dieses Ding selten aus einer seitlichen Ansicht. |
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Springbrunnen,1917. Ready-made. Urinoir aus Sanitärporzellan, Höhe 62, 5 cm. Replik 1964. Privatsammlung" (Klant/Walch, "Grundkurs Kunst 2", 1990, S.166) |
Springbrunnen, 1917. Ready-made, Original verschollen" (Wilfried Nerdinger, "Perspektiven der Kunst", 1990, S.279) |
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Cornelsen 2009, S.50)
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des XX. Jahrhunderts" im Haus der Kunst, München "Fountain, 1917/1964" (Foto von Uli Schuster, (September 2000) |
Fazit:
'Fountain' von Marcel Duchamp erscheint uns eher als ein gedankliches Konstrukt, eher eine Idee, als ein bestimmtes, unverwechselbares Ding oder eine Gattung von Dingen. Tatsache ist, dass es sich im Verlauf der Jahre seit 1917 vermehrt hat, dass zum Objekt eine Reihe von Klonen oder Geschwistern entstanden ist, wobei einige dieser Nachkommen ästhetisch leicht aus der Reihe tanzen, eher als jüngere Brüder wirken. Sein sinnlich wahrnehmbares, singuläres Erscheinungsbild scheint für Duchamp oder/und die Nachbildner eher unbedeutend gewesen zu sein. Eine Kunst, der es um ein sinnlich-visuelles Erleben geht, bezeichnet Duchamp gern verächtlich als "retinal". Wir werden später noch sehen, dass Repliken für Duchamp durchaus eine gewünschte Form seines Werks darstellen. Wir werden auch feststellen, dass eine ganze Anzahl der Repliken von 'Fountain' trotz aller Verachtung dieser Ideenkunst gegenüber dem retinalen Erscheinungsbild den angestrengten Versuch machen dem ursprünglichen Objekt doch möglichst ähnlich zu sein. Die Schrift sitzt immer links vom 'verwaisten' Wasseranschluss und das Objekt liegt meist auf seiner einzigen planen Fläche sozusagen am Rücken. Der Werkstoff Porzellan (mit Ausnahme einzelner vergoldeter und bronzener Exemplare) scheint eine ästhetische Notwendigkeit, ein Sockel erscheint als erwünschte, aber nicht zwingend notwendige Beigabe, vielleicht auch deshalb, weil nur so eine Ansicht möglich ist, die der Fotografie des 'Originals' nahe kommt. Der Packzettel ist nur in der Fotografie von Stieglitz erkennbar, wenn sie nichtr , wie im Kammerlohr, unten abgeschnitten ist. Er scheint den Reproduzenten verzichtbar gewesen zu sein. Dabei ist er für die Genese des Kunstobjekts recht aufschlussreich. |
Den
Autor eines Kunstwerks stellen wir vor dem Original in der Regel über
eine Signatur fest. In diesem Fall ist die Beschriftung mit Namen
und Datum am Objekt recht augenfällig, widerspricht allerdings den
Angaben in unserem Schulbuch, das Marcel Duchamp als Autor bezeichnet und
zwei Daten nennt, 1917 und 1964. Wir müssen also der Bedeutung
des Signets nachgehen und erklären, was die Bezeichnung "Replik
1964" bedeutet. Was sagt uns "R. Mutt 1917"?.
Nerdinger sagt dazu, dies sei "der Namen einer bekannten Sanitärfirma". Warum signiert Duchamp mit dem Namen eines möglichen Herstellers? Danto weiß es anders: Das Urinal sei "produziert von einer Firma Mott Works" (Danto, "Die Philosophische Entmündigung der Kunst", 1993, S.54) Danto kann auch zum unterschiedlichen Aussehen der Objekte etwas beitragen: "Tatsächlich ging das Original verloren, doch Duchamp hat (in den 60er Jahren!) für die Janis Gallery noch ein weiteres Urinal gekauft und ein drittes für die Galleria Schwartz in Mailand, und später hat er dann sogar eine Auflage von acht Exemplaren nummeriert und signiert, als handelte es sich um eine limitierte Auflage von einem Kupferstich"...Ganz offensichtlich kam es ihm dabei nicht auf gleiches Aussehen an, vielleicht nicht einmal auf die gleiche Herstellerfirma, möglicherweise hat er die Waren auch gar nicht mehr 'selbst im Warenhaus' erstanden, weil das Schleppen so eines schweren Teils im Einkaufsnetz für einen 77jährigen nicht mehr so einfach gewesen sein dürfte. Danto setzt hinter die Schilderung des Ursprünglichen Einkaufs im Jahr 1917 ein "(selbst!)". Kann es für den Anteil des Künstlers an einem derartigen 'Werk' entscheidend sein, ob er es eigenhändig im Lagerhaus erstanden hat? Nach Berichten seines Galeristen Schwarz schreibt H. Mann von dessen Behauptung, "dass Walter Arensberg, Joseph Stella und Marcel Duchamp Fountain bei Mott Works abgeholt hätten, wobei Arensberg das Urinal bezahlt habe."(H. Mann, S.38) Es ist also gut möglich, dass bereits der simple Akt eines Einkaufs im Sanitärfachgeschäft noch mehrere Beteiligte involvierte und rechtlich eigentlich derjenige als Käufer zu gelten hat, der die Sache bezahlt. Wenn Duchamp bereits beim Kauf womöglich nicht als der eigentlich Handelnde bezeichnet werden kann, so bleibt noch die Frage, wie es um die Behauptung steht, er habe es ausgestellt. Kann ein Künstler sozusagen eigenhändig sein Werk ins Museum auf einen Sockel stellen? Mit dieser Frage werden wir uns weiter unten auseinandersetzen. Hier nur so viel: Duchamp wollte ganz offensichtlich mit dem Pseudonym keine Autorenschaft beanspruchen oder wollte seine Zuständigkeit verschleiern. Insofern scheint es konsequent, dass er auch nicht selbst das Objekt zur Ausstellung brachte, oder gar ausstellte, oder etwa auf einen Sockel stellte, sondern eine Freundin damit beauftragte."Eine meiner Freundinnen sandte unter dem männlichen Pseudonym Richard Mutt ein Urinal aus Porzellan als Skulptur ein..." (Brief von Duchamp an seine Schwester Suzanne vom 11. April 1917, zitiert in H. Mann, "Marcel Duchamp 1917", S.27) Zurück zur Problematik der Verschiedenheit der Repliken: Entscheidend scheint die Tatsache zu sein, dass man es als Urinal erkennt, als ein Behältnis zum Auffangen männlicher Notdurft, und dass die Signatur R. Mutt 1917 darauf an ein historisches Ereignis erinnert, das für die Kunstwelt von 1964 an Bedeutung gewonnen hat. Die Repliken behoben sozusagen notdürftig eine kunsthistorische / museale Leerstelle in Ermangelung des Originals. Das in München gezeigte Exemplar stammt aus Stockholm, und es sieht an den Rohrstutzen gebraucht aus. Vielleicht kommt es gar nicht aus dem 'Kaufhaus'. Das individuelle Objekt versteckt sich hinter einer historischen Maske. Wir benützen es um des historischen Objekts wegen. Betrachten wir die Abbildung in unserem Buch von Klant/Walch, "Grundkurs Kunst", Band 2 auf Seite 166. In dem zweiseitigen Text unter der Überschrift "Die Umwertung aller Werte" ist davon die Rede, daß Duchamp"Gebrauchsgegenstände".."durch ihre Ausstellung zu Kunstwerken erklärte". Um die Jahrhundertwende zum 20. Jh gehörte es zum Selbstverständnis des Künstlers, dass er sein Werk kraft einer originären Erfindung als Autor (Urheber, Schöpfer) konzipierte und zumindest modellhaft als zeichnerischen, malerischen, plastischen Entwurf realisierte. Gerade an der Wende zum 20. Jh wird ein Streit virulent, der eine alte handwerkliche Forderung aktualisiert, die durch die Erfindung von druckgrafischen und plastischen Reproduktionsverfahren in Gefahr zu geraten scheint: Künstlerischen Rang kann nur ein Werk beanspruchen, das der Urheber eigenhändig ins Werk gesetzt hat und das dadurch Orginalität im Sinn von Einmaligkeit erlangt. Im Zusammenhang mit dem Begriff "taille directe" haben wir im Umfeld von Rodin und Maillol diese Auseinandersetzung bereits im Semester 11/1 kennen gelernt. Im Begriff Ready-made wird dieser Forderung nach Eigenhändigkeit widersprochen. Duchamps Fahrrad-Rad kann noch als Montage durchgehen, aber der Flaschentrockner und das Urinoir verdanken weder ihre Erfindung noch ihre Ausführung einem Akt künstlerischer Schöpfung. Im Fall des Fahrrad-Rads ging Duchamp noch einen Schritt weiter. Er beauftragte seine Schwester das Objekt mit seinem Namen zu versehen.
Eine derartige Erklärung oder Weihe zum Kunstobjekt hat es 1917 aus dem Munde Duchamps nicht gegeben, wenn auch die 'Formatierung', und wie später zu sehen sein wird, die Einsendung zu einer Kunstausstellung eine solche Willensbekundung nahelegen. Die Grundlage für diese Behauptung war zunächst jedoch eine völlig andere: "Nach dem Vorbild der der französischen <Société des Independants> sollten für die geplanten Ausstellungen keine Zensur und keine Vorauswahl durch eine Jury stattfinden, so daß jeder, der die Gebühr bezahlte, auch hätte ausstellen können..." (H. Mann, "Marcel Duchamp 1917", S.21) So gesehen war es ein Beschluss der die Ausstellung durchführenden Künstlergemeinschaft, dass jedes Mitglied einen beliebigen Gegenstand zur Ausstellung einreichen und ihn damit in den Kontext von Kunst transponieren konnte, der die Voraussetzung für Duchamps Versuch schuf. |
Fazit:
Wir lernen daraus, dass sich 1917 in New York jedermann (eine der zahlreichen Geburtsstunden von "Jeder Mensch ein Künstler") an einer Kunstausstellung mit einer beliebigen Einreichung (eine der vielen Geburtsstunden von "alles kann Kunst sein") beteiligen konnte, wenn er eine gewisse Gebühr bezahlte, von der im nächsten Abschnitt noch die Rede sein wird. Wir lernen weiter, daß wir unterscheiden müssen zwischen Kunstwerken, die ein Künstler hergestellt hat, und solchen, die er dazu ernannt, erwählt hat. Aus dem Brief an seine Schwester Suzanne lernen wir darüber hinaus, dass Duchamp der Meinung war, dass selbst ein Signet nicht notwendig eigenhändig gefertigt sein muss. Im rechtlichen Sinn könnte solch ein Vorgang den Tatbestand einer Fälschung erfüllen. Duchamp allerdings hat nie ein Geheimnis aus diesen Vorgängen gemacht, insofern liegt dieser Fall komplizierter als eine gewöhnliche Täuschung durch einen Fälscher. Fountain ist kein beliebiger Gegenstand auch wenn Duchamp in Interviews stets behauptete, dass es ihm um ästhetische Indifferenz gegangen sei bei der Auswahl des Objekts. Seine weiße, glänzende Oberfläche weckte Assoziationen ( die Rede war z.B. "vom verschleierten Kopf einer Renaissance-Madonna" oder einem "sitzenden Duddha" oder "einer von Brancusis polierten erotischen Formen") (Tomkins S.219f). Sein Anblick mobilisierte bekannte Bedürfnisse, vermochte körperliche Reaktionen auszulösen. Allerdings zielen die meisten dieser Reaktionen auf nichts was man um 1917 von einem Kunstwerk erwartet haben wird. Kann es sein, dass in Duchamps Biografie ein Hinweis zu finden wäre auf ein besonderes Verhältnis zu dieser Art Material oder Bedürfnis, etwa in dem Sinn, wie man bei Beuys oft die Vorliebe für Filz und Fett mit Hilfe biografischer Fakten erklären will? 1954 musste Duchamp sich einer Prostata Operation unterziehen und schrieb danach in einem Brief an seinen Freund Roché über "ein neues und immenses Vergnügen, wie alle anderen pissen zu können, ein Vergnügen, das ich 25 Jahre lang nicht gekannt habe" (zit in Tomkins S.452). Wenn die Zeitangaben stimmen, dann dürften seine Probleme beim Wasserlassen nicht bis 1917 zurückreichen, aber wer vermag das genau zu sagen? |
Wer als Besucher den Eintritt in ein Kunstmuseum
bezahlt darf damit rechnen, dass er dort Kunst antrifft, die von zahlreichen
Fachleuten begutachtet, des Ausstellens für würdig empfunden
wurde und in einer Weise präsentiert wird, die den Intentionen seines
Autors nicht widerspricht. Von der "Kunst", die überall auf der Welt
produziert wird, landet nur ein relativ kleiner Anteil in öffentlichen
Museen. Und bis ein Kunstwerk in einem öffentlichen Museum seinen
Platz findet, muss es in der Regel eine weite Strecke durch Verkäufe,
Sammlungen, Ausstellungen, Versteigerungen zurücklegen. Ein Kunstwerk,
das im Museum zu finden ist, hat in der Regel eine dokumentierte Provenienz,
das ist so etwas wie ein beglaubigter Lebenslauf. Duchamps Fontäne
musste auf einen Platz im Museum rund ein halbes Jahrhundert warten. Manche
Kunst schafft das schneller, aber kein Künstler hat ein 'Recht', irgend
etwas in irgendein Museum zu stellen. Das sind Märchen.
Unterhalb des öffentlichen, staatlichen oder privaten Museums existiert ein vielschichtiges Ausstellungswesen. Künstlervereine, Messen, Galerien, Ausbildungsstätten wie z.B. Akademien, private Kunstschulen, veranstalten Ausstellungen, Bazare mit "Kunst" von sehr unterschiedlichem Rang. Die "Society Of Independent Atrists Inc."(S.I.A.) in New York wurde 1917 gegründet und existiert heute noch. Gründungsmitglied und einer der 21(!) Direktoren war Marcel Duchamp. Ziel derartiger Vereine war und ist es, für ihre Mitglieder Ausstellungs- und damit Verkaufsmöglichkeiten zu schaffen. Kunstvereine sorgen in der Regel dafür, dass nicht jeder aufgenommen wird. Man benötigt z.B. den Nachweis einer anerkannten Ausbildung, Referenzen durch angesehene Mitglieder, ein öffentliches Renommee etc. In New York 1917 war der Zugang zur Ausstellung monetär geregelt: Man zahlte einen Dollar um Mitglied zu werden und einen Jahresbeitrag von fünf Dollar, der einen berechtigte zwei Werke in der Jahresausstellung zu zeigen. Der Verein mietete Räume zur Ausstellung (Grand Central Palace) an, bestellte eine Hängekommission, besorgte einen Katalog, der damals aus einer Liste der 1235 Teilnehmer(!) und ihrer 2125 Einreichungen(!) sowie über 300 fotografischen Reproduktionen bestand (Mann S.65). Über eine weitere Schrift zur Ausstellung der S.I.A., "The Blind Man", wird weiter unten noch die Rede sein. Allgemeiner Kernbestand der Ausstellungstätigkeit sind auch eine Ausstellungseröffnung, Vernissage mit geladenen Gästen, mehr oder weniger festlich, mit Reden und Häppchen und eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit in Form von Pressetexten und Plakatierungen. Man kommt heute kaum mehr um die Feststellung herum, dass die Institutionen des Museums, des Kunsthandels (-Markts), der 'Kunstvermittlung', manche sprechen auch von der "Kunstwelt" (Danto, "Wiedersehen mit der Kunstwelt" in "Kunst nach dem Ende der Kunst", S.47-72) andere vom "Kunstsystem" (Beat Wyss - "Vom Bild zum Kunstsystem", Köln 2006), eine maßgebliche Rolle spielen in der Definition dessen, was als Kunst bezeichnet, diskutiert, verhandelt wird.
Ganz offensichtlich war 1917 die Zeit nicht
reif für den Einzug von "Springbrunnen" in eine Kunstausstellung,
geschweige denn in ein Museum. Nicht einmal die für damalige Verhältnisse
extrem niedrige Schwelle einer Society Of Independent Atrists konnte
"Springbrunnen" überspringen. Umso interessanter erscheint die Frage,
wann "Fountain" schließlich diesen Sprung über die Schwelle
eines Museums schaffte. Der Verbleib des ursprünglichen Objekts verliert
sich nach 1917 erst einmal im Ungewissen, Nerdinger nannte es "verschollen".
1951 bat Janis Duchamp für seine Ausstellung Repliken für die beiden "verschollenen" Ready-mades Fountain und Bicycle Wheel zu signieren. Diesem Wunsch kam Duchamp nach. Angeblich hat Sidney Janis sein Urinal in Paris auf einem Flohmarkt selbst erstanden und nach Amerika importiert. Mir fiel nur auf, dass seine Rad-Replik auf einer gekrümmten Gabel montiert ist, anders als bei späteren Repliken, die eine gerade Gabel aufweisen. Sein Urinal zeichnet sich aus durch eine kreuzförmige Anordnung der Ausflusslöcher. Sidney Janis war seit 1934 über Jahre hinweg Leiter der Ankaufskommission des Modern Art Museums. Diesem Museum vermachte er nach seinem Tod Teile seiner Sammlung, z.B. die Fahrrad-Rad-Replik. Seine Replik der "Fountain" landete offenbar auf Umwegen über private Sammlungen erst 1998 im Philadelphia Museum of Art als "Gift (by exchange) of Mrs. Herbert Cameron Morris". (siehe Abb. re.). Dies ist nun wirklich ein Museum, aber nicht Duchamp hat das Urinal dorthin gebracht, denn er ist zu diesem Zeitpunkt bereits vor 30 Jahren verstorben. Eine weitere Replik wurde 1963 von Ulf Linde für Galerie Burén, Stockholm gefertigt und kam möglicherweise 1965 ins Moderna Museet in Stockholm; die Nachbildung besitzt in Großbuchstaben den Schriftzug „R. MUTT / 1917“. Die Signatur stammt angeblich nicht von Duchamp, sondern von Linde (Quelle: Wikipedia), wurde aber nachträglich von Duchamp "beglaubigt". Im Oktober 1964 wurde eine Serie von acht Exponaten für die Galleria Arturo Schwarz in Mailand plus je ein Exemplar für den Künstler und den Hersteller sowie zwei Ausstellungsstücke für Museen angefertigt. Damit war der Einzug von Fountain in mehrere Museen bereitet. Duchamp, der 1968 verstarb, hat also den Einzug seiner Fountain ins Museum gerade noch erlebt. |
Fazit:
Der weite Weg von Duchamps Ready-mades ins Museum wird durch unsere Schulbücher sehr vereinfacht und damit märchenhaft verbrämt dargestellt. Das Museum und das facettenreiche Ausstellungswesen ist den Schulbüchern in der Regel keine Reflexion wert, obwohl die Interpretationen von Objektkunst vielfach gerade die Art der Präsentation (z.B. 'auf einem Sockel', und 'ins Museum') in ihre Überlegungen mit einbeziehen. Mir scheint es ja nicht unerheblich, ob Fountain auf einem -wie immer gearteten- Sockel dargeboten wird, oder wie eine Dusche über der Tür hängend. Im 2. Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, der Geburtsstunde von Fountain, war kein Museum der Welt bereit, Duchamps Provokationen einen Platz in einer öffentlichen Sammlung einzuräumen. Kein Künstler konnte zu dieser Zeit einfach irgendein beliebiges Objekt zur Kunst erklären ohne bei den Institutionen des Kunstbetriebs auf Widerstand und Ablehnung zu stoßen. Mehr als 30 Jahre dauerte es, bis Fountain als kunsthistorisch relevantes Ereignis sozusagen erwachsen wurde und sich in New York ein Galerist in einer Ausstellung in Galerieräumen(!) an eine historische Aufarbeitung von Dada machte. Dabei kam er in Verlegenheit, weil sich "verschollene" Objekte schlecht ausstellen lassen. Immerhin fiel diese Darbietung mit Hilfe der Repliken in New York bei einigen jungen Künstlern und Ausstellungsbesuchern auf recht fruchtbaren Boden, und bereitete so aus heutiger Sicht einen Weg in die Pop-Art, die zu dieser Zeit selbst um Anerkennung kämpfte. Andere in New York ansässige, bereits etablierte und von Sidney Janis vertretene Künstler zogen sich entsetzt aus der Galerie zurück. Die Repliken zeigten jedoch einen Weg auf, der weitere Galeristen in Stockholm, Mailand und London zu Folgeausstellungen inspirierte und damit den Weg bereitete, der wiederum mehr als ein Jahrzehnt später ins erste Museum führte. Insbesondere die Ausstellung der Galerie Schwarz in Mailand ging auf Reise durch viele Hauptstädte Europas und sorgte dafür, dass Fountain und andere Repliken in den Jahren 1964/65 in Galerien und Museen ausgestellt wurden. Die Repliken befinden sich heute in den Sammlungen des Moderna Museet in Stockholm, des Indiana University Art Museums, des San Francisco Museum of Modern Art, im Centre Georges Pompidou, Paris und in der Tate Modern in London, sowie im Philadelphia Museum of Art. Eine Internetquelle listet nach Recherchen von Madeline Hollander den Verbleib von 17 Repliken mit den jeweiligen Abbildungen auf. http://www.cabinetmagazine.org/issues/27/duchamp.php Der keineswegs reibungslose Weg ins Museum führt über diverse Hürden, Institutionen, die Kunst ausstellen. Künstlervereinigungen, wie die Society Of Independent Atrists Inc., Galerien, wie die von Sidney Janis sind wie Haltestellen auf diesem Weg. Wie beim öffentlichen Verkehrsmittel gibt es prominentere Haltestellen und solche, wo selten jemand ein- oder aussteigt. Auch Museen sind heute häufig Orte wechselnder Ausstellungen. Dabei muss das Museum nicht Eigentümer der ausgestellten Stücke sein, die oft nur als Leihgaben aus privaten Sammlungen zur Ausstellung gebracht werden. Den Eigentümern hilft das ebenso wie den Künstlern, weil die Leihgaben sozusagen vorübergehend eine öffentliche Präsenz im Kunstsystem zeigen, weil diese Präsenz sich in Katalogen, Kritiken, Publikationen, Reproduktionen und in der Erinnerung des Kunstpublikums niederschlägt. Nicht alles, was irgendwo ausgestellt wird ist damit schon im Kunstsystem etabliert. Um im Museum zu landen mussten Dada und die Objektkunst erst zum kunsthistorischen Begriff werden. Das aber geht zunächst auf das Konto von Freunden und Sympatisanten, Sammlern, Galeristen und Publizisten, die über Ausstellungen, Reproduktionen, Kataloge, Kritiken, Textpublikationen erste Einschätzungen, Einordnungen vornehmen. In der Beziehung scheinen wir heute bereits einen Schritt weiter zu sein, weil auch Museen inzwischen vielfach ihre konservatorische Aufgabe nicht mehr genügen und sie sich als Wegbereiter für 'zeitgenössische' oder besser zukünftige Kunst sehen. |
"Duchamp"..."nahm
ein im Handel erhältliches Pissoir, stellte es"..."auf einen
Sockel"..."und nannte es >>Springbrunnen<<"..."Er
löste damit einen Sturm der Entrüstung aus..."(Nerdinger
S.277).
"Duchamp"..."löste mit diesen Objekten Skandale aus..."(Schroedel Grundkurs Kunst 2,S.165) "Als Duchamp 1917 ein umgekipptes Urinal mit dem verfremdenden Titel "Fontäne" versah und unter dem Namen R. Mutt zu einer Ausstellung einreichte, löste er damit einen Skandal aus." (Kammerlohr "Epochen der Kunst 5", S.93f) Unsere Schulbücher sprechen im Zusammenhang mit 'Fountain' von einem 'Skandal'. Wie wir nun bereits wissen, kann der Skandal nicht die öffentliche Ausstellung von Fountain gewesen sein, die 1917 ja nicht stattfand. Skandale sind Ereignisse, die erst durch eine breite Resonanz in der Presse und anderen Medien öffentlich Aufmerksamkeit für ein Kunstereignis herstellen. Skandale sind publizistische Ereignisse, die im 19. Jh als wirksame Werbemittel erkannt und seither regelmäßig inszeniert oder behauptet werden um die Neugier eines möglichen Publikums auf das Kunstereignis zu lenken, damit Besucher in Vorführungen und Ausstellungen zu locken und gleichzeitig einen Informationsdurst zu generieren und zu steuern, der der Presse hohe Auflagen sichert, was die bloße Ankündigungen oder sachliche Kommentierungen einer Ausstellung oder eines einzelnen Exponats nie erreichen könnten. Im Fall von 'Springgbrunnen' gab seine Nichtausstellung den möglichen Anlass für einen 'Skandal'. Schon denkbar, dass die Ausstellung eines Urinals im Kontext der Kunstausstellung einer Künstlervereinigung oder einer Galerie auch zu öffentlicher Empörung etwa in der Presse hätte führen können. Aber dazu kam es hier ja nicht. Zum Skandal eignete sich schon eher, dass eine juryfreie Ausstellung ein eingereichtes Objekt entgegen ihrer eigenen Satzung sozusagen unterschlug. Dabei war es zunächst besser, wenn das strittige Objekt selbst nicht zu sehr in den Vordergrund gerückt wurde. Jeder Leser einer New Yorker Zeitung hätte sich klar der Meinung der S.I.A. angeschlossen, dass ein Urinal in einer Kunstausstellung fehl am Platz ist. Fünf Tage nach Eröffnung der Ausstellung erschien ein kleinerer Artikel im New York Herald:
Woher also kommt
die Rede von einem "Skandal" im Zusammenhang mit Fountain?
Beispiele:
Einen großen Erfolg kann "The Blind Man" 1917 nicht gehabt haben. Henri-Pierre Roché erzählt darüber in seinen romanhaften Lebensbeschreibungen, welche Mühe er und Beatrice Wood (im Roman nennt er sie Patricia) gehabt hatten um die vierzig Dollar für das Papier aufzutreiben und die Werbung einer Zigarettenfirma zu requirieren, mit der der Druck finanziert wurde. Die Orthodoxen in der S.I.A. witterten die Provokation gegen ihr Kunstverständnis und erschwerten den Verkauf so gut sie konnten:
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Fazit:
Die Kritik an Fountain kam 1917 zu allererst aus den Reihen der "Society Of Independent Atrists Inc."(S.I.A.). Den orthodoxen Kreisen der New Yorker Künstlerschaft ging die Provokation, die das Objekt in ihren Augen darstellte, zu weit. Entgegen ihrer liberalen Satzung wollten sie dem Objekt die 'Würde' als Kunstwerk nicht zubilligen. Selbst die inhaltliche und öffentliche Auseinandersetzung mit dem Fall "R.Mutt" wurde vermieden, niemand gab von offizieller Seite eine öffentliche Stellungnahme zum Ausschluss ab und ganz offensichtlich entstand auch kein öffentlich wirksamer Druck auf die S.I.A. die Entscheidung zu rechtfertigen. Das Ereignis wurde als schlechter Witz eingeordnet, und über Witze können manche lachen, während sich andere darüber ärgern oder die darin enthaltene Provokation abprallen lassen. Fountain stellt die Frage nach den Grenzen des Kunstverstandes, die 1917 nicht zum ersten Mal gestellt wurde. Die S.I.A. reagiert auf diese Fragestellung, der sie selbst ihre Existenz verdankt, mit Restriktion etwa nach dem Motto: "Irgendwo müssen einem Begriff Grenzen gezogen werden, sonst löst er sich auf!" Damit ist ein Dilemma der modernen Kunstkritik markiert, wie auch eine Strategie der Künstler umrissen: Wer die Aufmerksamkeit der Kunstkritik herausfordern will, muss an den Grenzen des Kunstverständnisses rütteln oder sie möglichst provokant und spektakulär überschreiten. Das geht nur, wenn er sich der Kritik stellt, ihre Medien instrumentalisiert oder gezielt selbst nutzt. Die Rede vom "Skandal" um den Fall R. Mutt scheint mir doch überzogen. Der Versuch der Skandalisierung war erfolgt mit Duchamps Rücktritt als einer von 21 Direktoren der S.I.A. Das scheint verschmerzbar. Wenn man aber jeden Streit zwischen Künstlern, Missfallenskundgebungen des Publikums in Ausstellungen oder in publizierten Kritiken als Skandal bezeichnen wollte, verlöre man die Dimensionen aus dem Auge, die ein öffentliches Interesse an Kunstereignissen besitzen. |
Duchamp hat sich
mehrfach über die Rolle des Betrachters in einem Sinn geäußert,
dass dieser einen nicht unerheblichen Anteil am sogenannten "kreativen
Akt" hat. Dabei sah er den Betrachter eher als eine Institution im Kunstbetrieb,
sozusagen als das Kunstpublikum. Während Künstler
sich oft enttäuscht zeigen über Publikumsreaktionen und vermeintliche
Missverständnisse ihrer Intentionen, scheint Duchamp Spaß gehabt
zu haben an den unterschiedlichsten Publikumsreaktionen auf seine Aktionen
und Objekte. In Interviews äußerte er sich gern mehrdeutig und
forderte so zu kontroversen Ausdeutungen heraus.
Duchamp war offenbar der Meinung, dass der Künstler nur einen Teil des schöpferischen Aktes vollbringe. Er, der Künstler, sei dabei ohne jedes wirkliche, volle Verständnis für das, was er tue, sondern handle wie eine Art Medium, das etwas in die Welt setzt, zum Ausdruck bringt, was seine geistigen Dimensionen erst in einem Kommunikationsprozess mit einem Publikum zur Entfaltung bringt. Ein derartiges Verständnis vom schöpferischen Akt relativiert die Bedeutung des Originals, das zwar Ausgangspunkt, Quelle, Ursprung bleibt, aber erst im Lauf durch Zeit und Raum als "Werk" zur Entfaltung kommt oder aber versiegt, und damit wieder aus der Geschichte und dem Gedächtnis der Menschheit verschwindet.
"Fountain gefällt nicht jedem Freund der Kunst, und ich muß gestehen, daß, wenn ich es geschenkt bekäme, ich es bei aller philosophischen Bewunderung doch baldmöglichst gegen nahezu jeden Morandi oder Chardin eintauschen würde - oder auch, da man es auf dem Kunstmarkt ja gern ein wenig übertreibt, gegen ein mittelgroßes Schlößchen an der Loire." (Danto, "Die philosophische Entmündigung der Kunst", S.56) Die Rolle des Betrachters im modernen Kunstsystem ist vielschichtig und hängt auch damit zusammen, dass die real existierenden Vorstellungen von Kunst historisch gewachsen sind und traditionalistische Ideen neben aufgeklärten und modernistischen gleichzeitig von der Kunst bedient werden und im Publikum ihre Anhänger finden. Hatten Bilder und Plastiken "vor dem Zeitalter der Kunst" (Belting) maßgeblich eine kultische Funktion, so war vom "Betrachter" eine religiöse Haltung gefordert, die dem nüchternen Begriff "Betrachtung" eher nicht entspricht, sondern Andacht meint. Kultische Bilder wenden sich an Gläubige und die erwarten vom Bild heilspendende Kräfte. Ins Profane übertragen bleibt davon seit der Renaissance die Erwartung von Erbauung und Erhebung. Gläubigkeit tritt in den Hintergrund und Kennerschaft im Sinn von vorwiegend literarischer Bildung nimmt nun den ersten Rang ein. "Der Umgang mit Kunst ist eine säkularisierte Form der Bildfrömmigkeit." (Beat Wyss, "Vom Bild zum Kunstsystem". S.89) Das frühe Kunstpublikum erwartet in Bildern und Plastiken Dinge zu sehen, die ihm aus der Literatur geläufig sind, die aber seine Vorstellungen sinnlich verdichten und bildhaft vergegenständlichen. Kennerschaft erfordert nun vom Publikum die Fähigkeit des Vergleichs der Werke untereinander, des persönlichen Stils der Künstler, eine Neugier gegenüber Besonderheiten, Eigenwilligkeiten eines Autors und seiner 'Handschrift' immer im Verhältnis zu dem, was als gängiges Muster gilt. Im 18./19. Jahrhundert löst sich die bildende Kunst zunehmend aus dieser Bindung an die Literatur und entdeckt das Ästhetische als eigenen Wert. Das sinnliche Vergnügen am 'reinen Sehen' entspringt dem visuellen, 'retinalen' Reiz von Farbe und Form, Kunst wird zunehmend selbstreferentiell, autonom. Geschmack und Genuss werden zu Kategorien der Kunstbetrachtung. Das 19. Jh ist geprägt von einem Wandel des Kunstpublikums. Religiöse und höfische Kunst findet vielfach ein neues Zuhause im Museum und das Publikum rekrutiert sich nun nicht mehr aus Kirche und Adel. Öffentliche Museen eignen sich nicht als Orte religiöser Andacht. Bürgerliche Betrachter erwarten von musealer Kunst keine Wunder, doch bleibt eine Bewunderung, die sich allerdings nun eher auf die Schöpfer der Werke richtet, die man im Positiven als Genie verehrt, im Negativen als Schmierfink, Kleckser, Stümper verdammt. Ein wachsendes Interesse
des bürgerlichen Publikums richtet sich auf neue, zeitgemäße
Inhalte, über die nationale oder republikanische, damit bürgerliche
Identität
vermittelt wird, oder auch nur ein soziales Milieu beschrieben ist,
mit dem man sich identifizieren kann. Ein neuer Reichtum lässt einen
neuen Kreis von Sammlern entstehen und ein System der Vermarktung, in dem
sich Galerien, Verkaufsausstellungen, Messen und dem entsprechende Formen
der Publizistik herausbilden. Die Handelsware Kunst weckt ein finanzielles
Interesse am Preis, an Konkurrenz, an Investition und an Spekulation.
Dabei bleibt Kunst auch als Handelsware ein Exot insofern, als es im wesentlichen
um das Einzelstück geht, das als Unikat einzigartig und unverwechselbar
sein soll.
Das Jahrhundert klingt aus mit einer Kunst, die aufrütteln, provozieren will. Der Schock, den ein impressionistisches Werk entgegen der Absicht des Künstlers noch beim Publikum auslösen konnte, wird nun als werbewirksames Mittel von den Künstlern funktionalisiert. Futuristen, Fauvisten, Kubisten, Dadaisten und Surrealisten kalkulieren mit der Empörung, dem Skandal, dem Schock und das Publikum scheint bald genau nur noch das von den Modernen zu erwarten. Heute zeigt sich das Publikum zeitgenössischer Kunst meistens gestählt (oder abgestumpft) gegenüber Provokationen. Spektakuläres, Monströses wird als Unterhaltung erwartet und muss hübsch angerichtet zum Event gestylt werden. Dann wird Kunst zu einem Kassenmagnet, in dessen Feld sich als gesellschaftlicher Treffpunkt einerseits Massen in Schlange durchs Museum schieben, andererseits sich etwa auf Messen oder Vernissagen ein geladenes, recht bunt und exklusiv erscheinendes Völkchen von Prominenz, Celebrities und Adabeis "mit dem Rücken zur Kunst" (Wolfgang Ullrich) bei Häppchen und Prosecco gegenseitig seiner Kultiviertheit versichert. |
Fazit:
"Nur wer das Kunstsystem versteht, versteht das Bild." (Beat Wyss, "Vom Bild zum Kunstsystem". S.118) Duchamps Fountain war hier ein Beispiel dafür, dass wir Kunst heute nicht betrachten sollten als bloßen Ausdruck, als Vergegenständlichung eines künstlerisch tätigen Individuums, das mit mysteriösen Gaben und magischen Kräften ausgestattet ist. Was ein Künstler in die Welt setzt, das muss sich in einem gesellschaftlichen Umfeld behaupten, das wir als Kunstsystem bezeichnen können. In diesem System spielen die ebenfalls künstlerisch produktiven Zeitgenossen eine Rolle als Konkurrenten, spielt ein Kunstverständnis der Zeit eine Rolle, das inkorporiert ist in Traditionen der Kunstwissenschaften und der Kunstkritik sowie im Sammlungswesen z.B. der Museen. Schließlich spielt heute ein Kunstmarkt eine entscheidende Rolle, in dem sich nicht nur Verkäufer, Käufer, Publizisten, Verkaufsförderer, Kritiker und Spekulanten tummeln, sondern auch ein Publikum, das mit seinen Vorlieben und Vorurteilen, mit seinem Kunstverstand oder Unterhaltungsbedürfnis, mit Ignoranz oder Manipulierbarkeit auf die Versuche, Strategien des Systems reagiert. Kaum ernsthaft ist vorstellbar, dass ein Betrachten von Fountain heilende Kräfte entfalten könnte. Wenn das Objekt 1917 dennoch den Titel "Buddha of the Bathroom" (The Blind Man) erhielt, dann erschließt sich dieser Witz nur dem, der die darin verpackte Anspielung an quasi religiöse Erwartungen eines falsch orientierten Kunstpublikums erkennt und die Meinung teilt, dass von Kunst heute kein Heil mehr zu erwarten ist. "Fountain" scheint mir auch nicht geeignet die Erwartung von Erbauung und Erhebung zu befriedigen. Für den Kenner von Brunnenplastik kann der Titel "Fountain" nur als Witz verstanden werden. Ein Vergleich etwa mit dem Wittelsbacher Brunnen in München oder der Fontana di Trevi in Rom ist selbst dann nicht leicht nachvollziehbar, wenn man zugeben muss, dass auch "Fountain" ein sprudelnder Quell der Erkenntnis sein kann und dass auch in andere Brunnen sich gelegentlich jemand eines kleineren Bedürfnisses entledigen wird. Über ein mögliches sinnliches Vergnügen beim Anblick von "Fountain" macht sich Danto lustig: "Wie sehr es doch dem Kilimanscharo gleicht! Wie das weiße Strahlen der Ewigkeit! Wie arktisch erhaben!" (Danto "Die Verklärung des Gewöhnlichen", 1991, S. 148). Danto gibt uns auch einen Hinweis, wie wir Fountain heute als Kunstobjekt betrachten und damit akzeptieren können: "Die Eigenschaften, die das in die Kunstwelt gestellte Objekt besitzt, hat es mit den meisten Stücken der industriellen porcelainerie gemeinsam; die Eigenschaften, die Fountaine als Kunstwerk besitzt, hat es mit dem Grabmal für Julius II. von Michelangelo und der Bronzestatue des Perseus von Cellini gemeinsam." (Danto, ebenda S. 148) " und "...das Werk selbst besitzt Eigenschaften, die dem Urinal fehlen: es ist gewagt, unverschämt, respektlos, witzig und geistreich."(Danto, ebenda S. 147) Der Witz, Geist, das Wagnis, die Unverschämtheit und Respektlosigkeit, die Danto "Fountain" hier bescheinigt, erschließen sich nicht durch Augenschein, sondern -wenn überhaupt- im Betrachten des gesamten Werdegangs, in dem sich ein gewöhnliches Urinal über eine Zeitspanne von nahezu einem halben Jahrhundert in ein Objekt der Kunstgeschichte verwandeln konnte. "Die einmalige Störung des Kunstsystems durch eine dadaistische Provokation ist durch Wiederholung zur künstlerischen Strategie geworden, die mittlerweile seit fünfzig Jahren die Gegenwartskunst als ästhetisches Diskurs-Trauma beherrscht." ..."Der Duchamp der Dada-Zeit hatte mit dem Ready-Made bezweckt, die Idee des Kunstwerks zu verabschieden und damit die Institution Kunst in Frage zu stellen. Das ist bei der Wiederaufnahme vergessen worden. Die Nachahmer der sechziger Jahre übernehmen das Deckbild, um weiterhin Kunst zu machen: mittels Provokation, was die Institution Kunst inzwischen gegen jeden erdenklichen Angriff immun macht." (Beat Wyss, "Vom Bild zum Kunstsystem". S.100f) Ob diese Transsubstanziation eines Objekts der Sanitärporzellanerie Bestand haben kann, das mag sich in Zukunft erweisen. |
Quellen
"Die Verklärung des Gewöhnlichen", Arthur C. Danto, 1991, "Die philosophische Entmündigung der Kunst", Arthur C. Danto, 1993 "Wiedersehen mit der Kunstwelt" in "Kunst nach dem Ende der Kunst",Arthur C. Danto, 1996 "Marcel Duchamp", Biografie von Calvin Tomkins, München 1999 "Marcel Duchamp: 1917" von Heinz Herbert Mann, München 1999 "Vom Bild zum Kunstsystem", Beat Wyss , Köln 2006 http://www.mann-portal.de/publikationen.html
Im KUSEM existiert eine weitere Seite zu Fountain:
http://www.toutfait.com/issues/issue_3/Collections/rrs/shearer.htm
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