Materialsammlung
und Unterrichtssequenz zum Lernbereich 12.2 Kommunikation
3.
Wie deuten Kunstgeschichte und Künstler die Grabenkämpfe der
'Schulen' im 19./20. Jh?
von Uli Schuster 2011 |
Der neue Lehrplan
für die Oberstufe des G8 in Bayern sieht in 12.2 eine Auseinandersetzung
mit dem Themenfeld "Kommunikation" vor. Die Schüler sollen
alltagsästhetische Phänomene und Kunstwerke als Teile komplexer
Kommunikationsprozesse in der Gesellschaft begreifen. Dazu lernen sie unterschiedliche
Kommunikationsstrategien vor allem von Künstlern des 20. Jahrhunderts
zu verstehen. Dabei kommen kunstgeschichtliche Positionen der klassischen
Moderne und des 20./21. Jahrhunderts zur Sprache, die einen Eindruck vermitteln
von Affirmation bis Kritik, die geprägt sind von Provokation, Überwältigung
oder/und poetischer Verklärung, denen es um Erweiterung bis Entgrenzung
des Kunstbegriffs geht und um Autonomie der Gestaltung bis hin zur Ausschaltung
von Kritik.
Die nachstehende Unterrichtssequenz möchte in drei abgeschlossenen Einheiten Beispiele geben, die in diesen Rahmen passen. Neben den uns zur Verfügung stehenden Schulbüchern befragen wir auch spezifischere Quellen zum jeweiligen Autor oder Problemfeld. Die Unterrichtssequenz ist auf drei getrennte Adressen verteilt.
2. Welche Rollen besetzen Künstler und Publikum im Kunstsystem des 19. und 20. Jahrhunderts? Mit der französischen Revolution gerät in ganz Europa ein traditionelles ökonomisches Bündnis zwischen Kunst und feudalen Auftraggebern (Kirche und Adel) ins Wanken. Königliche und fürstliche Sammlungen sowie Bestände aus geplünderten Klöstern/Kirchen wandeln sich in öffentliche Museen mit einem neuen, bürgerlichen Publikum. Die künstlerische Produktion muß in neuem Maßstab über einen freien Kunstmarkt nach neuen Vertriebswegen und bürgerlichen Käuferschichten suchen. Das Verhältnis der Künstler zu ihrem Publikum ist im 19. und 20. Jh geprägt von starken Spannungen, die bis zu offen ausgetragenen Feindseligkeiten reichen. Dabei geht es nicht immer nur um die Kunst selbst, sondern auch um den gesellschaftlichen Rang, den Künstler beanspruchen, um Differenzen im Lebensstil, um ein Bedürfnis nach Erbauung oder Unterhaltung, das vom Publikum eingefordert wird oder auch um Belehrungen, die man sich erhofft oder verbittet. Dabei erscheint weder die Künstlerschaft als ein homogenes Gebilde noch lässt sich das Publikum oder die Kritik über einen Kamm scheren. 3. Wie deuten Kunstgeschichte und Künstler die Grabenkämpfe der 'Schulen' im 19./20. Jh? Die Ordnung der Kunstgeschichte in Epochen gelingt im 19./20. Jh nicht mehr. In immer kürzeren Zeitabschnitten lösen sich nahezu beliebig erweiterbare Reihen von Stilen, Schulen, Ismen, Gruppierungen und schwer einzuordnenden Individuen in immer kürzeren Zeitspannen ab und verlaufen teilweise auch zeitlich parallel zueinander. Sie bekennen sich zu unterschiedlichen Zielen, grenzen sich voneinander ab, konkurrieren um den Einzug in Museen und Sammlungen und sprechen sich nicht selten auch gegenseitig Relevanz, Aktualität, Bedeutung ab. Insgesamt bietet sich fast ein Bild wie bei politischen Parteien: Man vertritt eine gemeinsame Linie nach außen, bedient und pflegt ein begrenztes Publikum mit besonderer Rücksicht auf Wähler (Sammler) und wohlgesinnte Kommentatoren. Solche Bündnisse auf Zeit überdauern selten einen sich anbahnenden kommerziellen Erfolg und werden vom einzelnen Künstler schnell einer eigenen Profilierung geopfert. Einige markante Konkurrenten sollen hier vorgestellt werden. |
Wie
deuten Kunstgeschichte und Künstler die Grabenkämpfe der 'Schulen'
im 19./20. Jh?
A)
Deutschrömer und Nazarener gegen die Akademischen Lehren
Um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19.
Jahrhundert wird unter den Künstlern ein Dissens zwischen freier
und akademischer Kunst ausgetragen. Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts
weht der feudal orientierten Hofkunst der Hauch der Revolutiom um die Leinwände.
Die traditionellen, größeren Auftraggeber brechen weg und eine
neue Generation von Kunststudenten lehnt sich auf gegen den Lehrbetrieb
der Kunstakademien. In ihrem Urteil über die akademische Kunst sind
die Romantiker gnadenlos. Stellvertretend
für eine ganze Generation seien hier drei Künstler genannt v.l.
n. r.: Asmus Jakob Carstens (1754-1798), Joseph Anton Koch(1768-1839),
Johann Friedrich Overbeck (1789-1869). Gemeinsam ist ihnen die Ablehnung
der Akademischen Lehre und der durch sie repräsentierten Kunst.
Ihr Heil suchen sie in der ewigen Stadt Rom, die ihnen sowohl die Inspiration
an den Relikten der Antike wie auch denen der Renaissance bietet. In ihrer
Verehrung von religiösem Mittelalter und Raffael sind sie schon nicht
mehr ganz einig. Die Annäherung an ihre Vorbilder scheint ihnen in
ihrer Heimat verwehrt. Konflikte mit ihren akademischen Lehrern blieben
nicht aus. Im Grundsatz geht es ihnen um Wahrheit in Natur und Religion,
und die sehen sie durch die "akademische Manier" als nicht erreichbar
an.
In ihrem Bedürfnis nach Erneuerung der Kunst trieben es die bald in Rom als "Nazarener" verspotteten Lukasbündler extrem: Sie schlossen sich zu einer Art klösterlicher Kommune zusammen, verpflichteten sich auf eine strenge religiöse Lebensführung bis hin zu mönchischer Kleidung und suchten die Erneuerung der Kunst in einer Rückbesinnung auf den religiösen Geist mittelalterlichen Bildschaffens. In einer Wiederbelebung der Freskotechnik als Gemeinschaftsproduktion liegt auch ein Protest gegen ein wachsendes profanes Bildbedürfnis nach Kriterien des bürgerlichen Geschmacks. Dazu muss man wissen: Ein Fresko ist fest mit der Wand verbunden und eignet sich daher als Handelsware nicht, zielt auch im Format eher auf den Großauftrag in Kirche, Schloss, Rathaus, als auf ein Stück Dekoration im bürgerlichen Haushalt. |
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Künstlerzitate aus Pevsner
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In den Augen ihrer
Kritiker geht es einerseits um die Inhalte dieser Kunst, aber in besonderem
auch um die künstlerische Attitüde ("Haltung") und Lebensweise
dieser Künstler, an der man sich stößt.
D.Chodowiecki
über Carstens:
Zitate
aus "Künstler beschimpfen Künstler", Hrsg. Peter Dittma
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Mögliche
Aufgabe zur Recherche:
Wer ist wer? Welcher Generation gehören der Urteiler bzw. der Beurteilte an und aus welcher Sicht, Position, Schichtenzugehörigkeit erklärt sich sein Urteil über den jeweiligen Zeitgenossen? |
In einer ständischen Gesellschaftsordnung
gehörten Maler und Steinmetzen zum Großteil
der Schicht der Handwerker an. Nur einigen wenigen gelang es, vor allem
durch ihre höhergestellten Auftraggeber aus Kirche und weltlichem
Adel, eine Sonderstellung zu erlangen. Handwerker
organisierten sich seit dem Mittelalter in Gilden und Zünften.
Der Zunftordnung und ihren Zwängen konnte man als Künstler seit
der Renaissance nur entkommen, wenn man entweder direkt einem adeligen
Herrn unterstellt war oder in eine Akademie berufen wurde, wie sie
seit dem 17. Jahrhundert überall in Europa durch die Herrscherhäuser
gegründet wurden. Akademische Künstler
standen über oder außerhalb der Zunftordnung, konnten sich in
der Regel die größeren Aufträge sichern und damit auch
einen anderen Ruf erwerben als irgendein Mitglied einer Malergilde. Pevsner
schreibt "daß die Unterscheidung zwischen
Zunftangehörigen und Accademici in sich selbst die Vorstellung von
einem Kontrast zwischen "Kunst" und "kunst" trug, den die Renaissance hervorgebracht
hatte." (Nikolaus Pevsner, "Die Geschichte der
Kunstakademien", S. 79)
Diese Unterscheidung zwischen großer KUNST und kleiner kunst wird spätestens im 19. Jh zu einer Existenzfrage vor allem für die Massen der kleinen künstler. Beispielgebend für Europa war die Situation in Paris, wo über die Teilnahme an der staatlich geförderten Kunstausstellung in einem Salon des Louvre eine akademisch besetzte Jury wachte. Wer durch die Entscheidung der Jury nicht zum "Salon" zugelassen wurde hatte keine Aussicht auf staatliche Ankäufe, Auszeichnungen, auf Erwähnung in der Presse und wurde vom Publikum schlicht nicht wahrgenommen. Damit schwanden die Chancen, sich durch einen Verkauf ein Minimum eines wirtschaftlichen Erfolgs zu sichern. Große Kunst war in erster Linie Historienmalerei und die war klassizistisch geprägt durch das Vorbild David und seinen Schüler Ingres. Romantische Malerei tat sich selbst dort schwer, wo sie sich in Historienbildern versuchte (z.B. Delacroix oder Gericault). Der Konflikt zwischen den akademischen Klassizisten und den Romantikern wird in der Kunstgeschichte gern auf den Prinzipienstreit zwischen der Vorherrschaft von Linie (Zeichnung, Form) bzw. Farbe gebracht. Die Klassizisten sahen die Zeichnung als Grundlage jeglicher Bildnerei an, während insbesondere die französischen Romantiker den Primat der Farbe beschworen. Ganz schwer hatte es eine Malerei, die sich dem Realismus oder dem Naturalismus verschrieb und insbesondere die Landschaft und das Genre zu ihren Motiven machte. Das galt als bürgerliche Kunst und minderwertig, wurde auch an den Akademien nicht gelehrt. Erst der Salon des Jahres 1863 brachte eine Wende mit sich. Graf Niewekerke, der Museumsminister und Juryvorstand, wie auch andere Mitglieder der Jury hegten eine tiefe Abscheu gegen die "Kunst von Demokraten", für die der Dichter Gustave Flaubert den Ausdruck "democrasserie" geprägt hatte. (Ross King, S. 97) "Von den über 5000 eingereichten Arbeiten waren lediglich 2217 angenommen worden"..."Von den 3000 Künstlern, die ihre Werke eingesandt hatten, erhielten nur 988 eine gute Nachricht." (Ross King, Zum Frühstück ins Freie, 2007, S.80) Es hagelte Proteste, es gab Aufmärsche der empörten Künstler, die Presse war verheerend für die Jury. Der Kaiser schaltete sich ein und genehmigte einen ersten Salon der Zurückgewiesenen, Alles gut nachzulesen z.B. bei Ross King:
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Bei Rewald (S.20) findet sich die Grafik eines "unbekannten Karikaturisten". Wie im Turnier gehen Delacroix und Ingres mit zu Lanzen umgeformten Pinseln aufeinander los. "Es lebe die Linie" und "Farbe ist Utopie" steht auf Ingres' Schild zu lesen, während Delacroix' Kampfparole lautet: "Linie ist Farbe!" Damit sind die Fronten zwischen Klassizismus und Romantik als Primat der Zeichnung gegen eine Befreiung der Farbe auf die bekannten Formeln gebracht. Die Generationen der Erneuerer schlagen sich jeweils auf die Seite von Delacroix. | "Combat des écoles" nennt Daumier seine Karikatur aus dem Jahr 1855 in Le Charivari. Daumier zitiert hier rechts den nackt kämpfenden antiken Speerwerfer aus dem "Raub der Sabinerinnen" (1799) von David. Der kleine Angreifer in Holzschuhen, ein Mann aus dem Volk, ist eher aus Courbets Steinklopfern von 1849 entwichen. Die Karikatur bezieht sich mit den Begriffen "Réalisme"und "Idéalisme" auf Courbets Protest gegen die offizielle Kunst auf der Weltausstellung von 1855. |
Mögliche
Aufgabe Bildvergleich:
Suche in Gegenüberstellungen von Bildern der Maler Delacroix (z.B. Odaliske von 1857, oder Frau mit Papagei von 1827, oder Medea von 1838) und Ingres (z.B. Odaliske von 1814, oder Badende von 1808) bzw. David und Courbet nach den Unterschieden, die die in beiden Karikaturen behauptete Gegnerschaft plausibel machen. |
Obwohl einige der zurückgewiesenen
Künstler Angst hatten im Salon der Zurückgewiesenen dem Spott
des Publikums ausgesetzt zu sein, hatte der Katalog "einen
Umfang von 80 Seiten", in dem "781
Kunstwerke von 366 Malern, 64 Bildhauern sowie einer Handvoll Architekten
und Graveure aufgeführt" waren. "Von
über 2000 Künstlern, die zurückgewiesen worden waren, hatten
sich weniger als 500 dazu entschlossen. ihre Arbeiten im Salon des Refusés
zu zeigen". Nicht alle ausstellenden Künstler waren im
Katalog enthalten, z.B. weil sie den Katalogmachern nicht bekannt waren,
so z.B. ein junger Maler namens "Paul Cezanne"(King,
S.107). Unter den Zurückgewiesenen Werken war eine ganze Reihe
minderwertiger Arbeiten. Andererseits ging es der Jury aber auch um die
Ausgrenzung von Werken, die nicht ihrem Kunstverständnis entsprachen,
aber von Künstlern stammten, denen eher die Zukunft gehören sollte:
Whistlers
"Mädchen in Weiß" (später umbenannt in "Synfonie in Weiß,
Nr.I"), Manets "Le Bain" (später umbenannt in "La Déjeuner
sur l'herbe").
Wie man sich den Besuch so eines Salons
vorzustellen hat liefern uns wiederum Salonkarikaturen von Daumier. Rewald
schreibt: "Vom ersten Tag zog der Salon der Refüsierten
eine riesige Menge von Besuchern an, an Sonntagen die Rekordzahl von drei-
bis viertausend Menschen. Die von der Kritik als sehr ergötzlich beschriebenen
Arbeiten der Abgewiesenen zogen natürlich mehr Leute an als die mehr
oder minder langweiligen Bilder des Salons. >>Beim Eintritt<<, berichtete
Hamerton, >>verliert jeder Besucher sehr schnell, ob er will oder nicht,
den Ernst und die Konzentration, die zur gerechten Beurteilung von Kunstwerken
unerläßlich sind. Kaum ist die Schwelle überschritten,
brechen auch die gesetztesten Besucher in Gelächter aus. Das genau
erhofften die Mitglieder der Jury, aber für viele wertvolle Künstler
ist es höchst ungerecht... Das Publikum ist im allgemeinen jedoch
entzückt. Jeder geht hin, um sich die abgelehnten Bilder zu betrachten<<"
(Rewald, "Die Geschichte
des Impressionismus", S. 59)
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Der Comte de Nieuwerkerke wurde 1849 zum 'Museumsminister' ernannt und wachte in dieser Funktion zwanzig Jahre lang über den Salon und die Jury. Charles Blanc löst ihn 1870 ab als Direktor der Schönen Künste. Mit 'aufwühlenden Kunstwerken' (s.u.) meint er Historienbilder fördern zu müssen, im Sinn von Heldenerzählungen als Vorbild für künftige französische Siege auf allen Feldern der europäischen Auseinandersetzungen. Der Marquis de Chenneviéres hatte seit 1852 als Niewekerkes Stellvertreter erheblichen Einfluss auf die Logistik für den Salon. Die Herren vertraten mit Vehemenz eine traditionalistische Kunstpolitik, die sogar dem Kaiser Verständnisprobleme bereitete. Letztlich waren sie verantwortlich für eine Spaltung der französischen Kunst des 19. Jh in zwei verfeindete Lager, eine akademisch-aristokratische Kunst und eine bürgerlich-demokratische Kunst. |
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Charles Blanc |
Zitate der Kunstbeamten aus King
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C) Reines Sehen gegen konventionelle Darstellung
Der Standesstreit
zwischen akademischer und nicht-akademischer Kunst wird seit dem Realismus
überlagert von einer Auseinandersetzung, bei der es um nicht weniger
als die "Wahrheit"
in der Bildnerei geht. Wir erinnern uns: Den gleich lautenden Anspruch
hatten bereits die Nazarener in ihr Brevier aufgenommen. Mit Sicherheit
meinten sie nicht die gleiche Wahrheit. Die akademische Malerei beruft
sich in diesem Streit auf Religion, Tradition und Literatur als Quelle
von Wahrheit. Was immer schon als wahr galt, dem Bestand an religiösen
Schriften oder dichterischer Erzählung entnommen war, das könne
getrost als zeitlose Wahrheit Thema von Malerei sein. Der Naturalismus
und in seiner Folge der Realismus, wollten eine andere Quelle der Wahrheit
geltend machen, einerseits die
wahrgenommene Natur und andererseits
die wahrgenommene soziale und gegenwärtige Realität. Die
Künstler der Renaissance konnten noch einen Einklang herstellen zwischen
den literarischen Überlieferungen und ihrer Wahrnehmung von Natur.
Der Realist pochte gegenüber den traditionellen Erzählungen der
Literatur auf die Wahrnehmung des realen Geschehens in seiner Zeit. Das
Zeitgemäße konnte eine Variante des historisch Überlieferten
sein, aber es konnte auch völlig neue Aspekte von Wahrheit enthalten.
"Man
muss zeitgemäß sein" war eine
Parole, der sich die Realisten verschrieben.
In Bezug auf die Wahrnehmung der Natur entfaltete sich der Dissens seit der Romantik gegen die akademische Lehre, die vor das Naturstudium eine Schulung durch das Erlernen der zeichnerischen Konventionen stellte. Die künstlerische Wahrheit wurde demnach erst einmal im großen künstlerischen Vorbild vermittelt. Zeichnen lernt man durch das Studium von Zeichnungen, nicht gleich durch das Studium des natürlichen Objekts. Malen lernt man durch das Kopieren von Malerei, nicht durch Malen in der Natur. Das war die akademische Regel, mit der schon manche Romantiker ein Problem hatten. Demgegenüber wurde seither eine Wahrnehmung propagiert, die frei von Konventionen, die auf das wahrnehmende Individuum unmittelbarer bezogen, unverstellter, reiner, ursprünglicher, authentischer und damit wahrer sein wollte. Auch die Impressionisten beanspruchten eine Wahrheit für sich, allerdings wiederum eine von der der Romantiker und der Realisten unterscheidbare Wahrheit. "Man sieht nur, was man weiß" kennt man als eine Weisheit, die Goethe zugeschrieben wird. Demgegenüber steht eine Parole, die William Turner ausgab: "Meine Aufgabe ist zu malen, was ich sehe, und nicht, was ich weiß." (Turner zitiert in W. Ulrich, "Was war Kunst", <Das unschuldige Auge> S.147) Dieser Devise, die seit Ruskin mit dem Begriff vom "Unschuldigen Auge" umschrieben wird, folgen die Impressionisten am wörtlichsten, sofern sie das Sehen als einen rein retinalen Vorgang abkoppeln wollten von allen Störungen, Verunreinigungen durch Gewohnheiten, Erfahrungen, Konventionen. Das reine Sehen suchten sie unmittelbar vor der Natur. Vorzeichnung und kompositorische Überlegungen fanden sie verzichtbar. Das Skizzenhafte, Raschaufgefasste schätzten sie als authentischer als die geglättete, überarbeitete Version. Deshalb verzichten sie auch auf die Vernissage, die glättende, vereinheitlichende und oft bräunlich dämpfende Lackschicht, die die traditionelle Malerei charakterisiert. Dem Augenblick und seinen konkreten Bedingungen maßen sie mehr Wahrheit zu als den 'zeitlosen' Phänomenen. Die Idee vom 'unschuldigen Auge' nimmt Abschied vom Thema, das man bereits aus Literatur und Maltradition kennt und begegnet seinem Gegenstand unvoreingenommen als "Motiv". Sie enthält
darüber hinaus in der Tendenz auch die Hinwendung zur Bildwelt
der sog. Primitiven, die allerdings erst der Expressionismus vollzieht.
Sie enthält in der Tendenz ein Interesse an der Bildnerei von Kindern
und den Wunsch der Künstler seelische Zustände herbeizuführen,
in denen die visuellen Sinneseindrücke 'befreit' sind von allem möglichen
Balast, der ein 'reines Erlebnis' verstellt, verzerrt, verhindert. Das
Programm vom 'reinen Sehen' wird etwas später mit der Entdeckung der
kindlichen Bildnerei auch zu einem pädagogischen Credo, nach
dem vom Kind möglichst alles fern zu halten ist, was eine ursprüngliche
und unverbildete schöpferische Kraft und einen natürlichen Gestaltungstrieb
behindern könnte.
Ins 19. Jh fällt eine Reihe von wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Natur des Auges als Sinnesorgan und über Farbe als den primären Sinnesreiz: Die Erkenntnisse über die Retina bestätigen den Malern die schon von der Romantik behauptete Dominanz der Farbe gegenüber der Linie. Der Impressionismus kennt keine Linie, keinen Umriss, keine Kontur, es sei denn , die Linie, die sich aus farblichen Flecken sekundär ergibt. Die Netzhaut löst das gesehene Bild auf in eine Summe von Farbimpulsen, Flecken. Der Impressionist malt keine Flächen und keine Verläufe, es sei denn solche, die aus einer Vielzahl farblicher Flecken gebildet sind. Die Zellen der Retina setzen Farbtöne aus wenigen Elemantarwahrnehmungen, Grundfarben zusammen (nach Young und Helmholz sind dies Rot, Grün und Violett). Der Impressionist reduziert seine Palette und vermeidet das Farbmischen auf der Palette. Diverse Einsichten in die Wirkung benachbarter Farben aufeinander (Kontrastlehre z.B. von Chevreul) nutzen die Impressionisten zur Steigerung von Farbwirkungen insbesondere unter natürlichen Lichtbedingungen. Die meisten dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse liegen in der Mitte des 19. Jh in publizierter Form vor. Systematisch von Künstlern genutzt und als ästhetische Theorie selbst formuliert, werden sie erst durch die Neoimpressionisten (z.B. Seurat). Zum Zeitpunkt des ersten Auftretens der Impressionisten als Gruppe scheint eher eine intuitive Annäherung oder Erkundung vorzuherrschen. Das behauptete naturgemäße,
und damit wahre Seherlebnis, entspricht zum einen leider nicht der Art
und Weise wie der zivilisierte Mensch des 19. Jh sich ein Bild von der
Welt macht, weil die "Flecken" der Retina viel zu klein sind um als solche
wahrgenommen zu werden. Zum anderen widerspricht es auch der Art und Weise,
wie ihm die Malerei bisher ein Bild von der Welt vermittelt hat, insofern
stellen beide Bilder eine Errungenschaft von zivilisierten Menschen dar,
die den Versuch unternehmen, etwas völlig Unnatürliches herzustellen,
nämlich ein Bild, das außerhalb unserer Wahrnehmung als eigenständiges
Objekt - Ölfarbe auf Leinwand - existiert und unseren Sinnen womöglich
eine Wahrnehmung vortäuscht. Wie ist die Rede vom "unschuldigen Auge"
wissenschaftlich einzuordnen? Wo kommt das "unschuldige Auge" in der Natur
vor, bei Wilden, bei Kindern, bei Tieren, warum sehen nicht einmal alle
Künstler mit unschuldigen Augen? Eine gewisse Bildkompetenz
ist wohl dem Auge selbst von Tieren nicht abzusprechen, aber:
Die Kommission in Tanseys Bild "The Innocent Eye Contest" scheint zu befürchten dass sich die lebende Kuh im Museum nicht kunstgerecht verhalten wird, und einer der Männer hält einen Wischmopp bereit, für den Fall dass sich dies bewahrheiten sollte. Tiere als Kunstexperten kommen um die Jahrhundertwende in Mode. In Paris lassen Künstler einen Esel mit seinem in Farbe getauchten Schwanz Bilder malen und reichen diese unter dem Pseudonym 'Maitre Boronali' zum offenen Kunstsalon ein, in München malt Gabriel von Max eine Horde Affen als Kunstkritiker. |
Welche Kunst ist wahrhaftig?
Eine Wahrheitsfindungskommission wird einberufen um herauszufinden, welche Malerei den höheren Grad an Realistik einem unschuldigen, natürlichen Auge bietet. So kann womöglich in einem Zeitalter industriellen und technischen Fortschritts auch ein Fortschritt oder Rückschritt in der Kunst festgestell werden. Eine aus ländlichem Milieu stammende und vermutlich nicht durch akademische Lehren verbildete Kuh wird ins Museum vor zwei Bilder gebeten. Die lebensgroße, konventionell gemalte Pastorale des holländischen Barockmalers Paulus Potter mit einem stehenden jungen Bullen im Vordergrund und einer im Schatten eines Baums liegenden Kuh, und rechts daneben, ein Bild aus der Serie der Heuhaufen vom Impressionisten Monet. Welchen Eindruck werden die Bilder auf die Kuh machen? Das Gemälde von Mark Tansey lebt von einer Mähr, die der römische Schriftsteller Plinius über einen Künstlerwettstreit zwischen den antiken griechischen Malern Zeuxis und Parrhasios berichtet. Ersterer habe auf einem Bild Trauben so natürlich gemalt, dass die Vögel herbeiflogen um danach zu picken. Parrhasios' Bild war hinter einem Vorhang versteckt. Als Xeuxis diesen zurückschieben wollte um die Malerei zu sehen, musste er erkennen, dass der Vorhang gemalt war. So hatte der eine Künstler die unschuldigen Augen der Vögel genarrt, der andere aber das geschulte Auge des Künstlers. (zwei Aufsätze können empfohlen werden: Arthur C. Danto: "Tiere als Kunsthistoriker" in "Kunst nach dem Ende der Kunst" von 1996 und Wolfgang Ulrich: "Das unschuldige Auge" in "Was war Kunst" von 2005) |
Mark Tansey, "The Innocent Eye Contest", Öl monochrom auf Leinwand,1981 |
Im Gegensatz zur akademischen Historienmalerei
begnügten sich die Impressionisten bei den von ihnen bevorzugten Landschaftsmotiven
mit eher kleinen Bildformaten. Gleyre, der Akademiker, in dessen privatem
Atelier Monet, Renoir lernten, verachtete die Landschaftsmalerei und für
ihn war das Skizzenhafte, bei dem viele impressionistische Maler
stehen blieben, nur ein Vorstadium. Auch Madame Lecadre, Monets Tante,
beklagte sich über die Kleckserei ihres Neffen: "Seine
Studien sind immer noch flüchtige Skizzen"..."sobald
er sie ausarbeiten, ein Bild daraus machen will, entstehen schreckliche
Klecksereien, auf die er sich etwas einbildet. Er findet auch Idioten,
die ihn beglückwünschen." (Rewald S.49)
Die schnelle Arbeitsweise mag einen Grund geliefert haben für die weit verbreitete Meinung der Kritiker, dass die jungen Maler ihre Arbeit nicht mit dem notwendigen Ernst betrieben. In der Tat sehen impressionistische Malereien den Studien sehr ähnlich, die man von den akademischen Malern kennt, die dann aber noch in einem weiteren Arbeitsgang verfeinert und geglättet wurden. Der Schriftsteller und Kritiker Astruc schlägt sich auf die Seite der Impressionisten und empfindet die Raffinesse und Glätte der akademischen Malerei als Brechmittel. Mit diesem Statement trifft er bereits den Zeitgeschmack der Moderne. Auch der Journalist Castagnary empfindet das Skizzenhafte der neuen Malerei als authentischer, frischer, lebendiger und argumentiert damit bereits in eine Richtung, die der Expressionismus nach der Jahrhundertwende aufgreifen wird. Es gibt also auch durchaus bürgerliche Kritiker, die den Neuerern wohlgesonnen sind und ihre Kunst verteidigen. Der Dissens zwischen den Neuerern und den Traditionalisten lässt sich auf einen Kern zuspitzen: Wann ist ein Werk vollendet? Und: Sollen die Spuren des Werkprozesses hinter der Bildillusion verschleiert werden oder sichtbar bleiben, das Bild also Zeugnis ablegen als ein von individueller Menschenhand gefertigtes Objekt. |
Charles Gleyre |
Zacharie Astruc |
Jules Castagnary |
Zitate der Kunstbeamten aus King, Rewald,
Schaefer
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Mögliche
Aufgabe Bildvergleich:
Suche in Gegenüberstellungen von Bildern der Maler Gleyre (z.B. Sappho 1867 oder Diana ) und Renoir (z.B. Badende von 1893 oder Schlafende 1897, oder Badende 1887) bzw. Monet und Gleyre nach den Unterschieden, die die in den Zitaten behaupteten verschiedenen Sehweisen plausibel machen. |
Das Reine Sehen stellt eine Idee der
Reinheit in die Kunstwelt, die, wie das Beispiel Monet (s.o.) zeigt,
die Malerei unempfänglich macht für Bedeutungen unserer gegenständlichen
Welt jenseits ihrer retinalen Reize. Denkt man diese Tendenz weiter, so
wird man auf die Idee kommen, die Gegenstände seien für das Gemälde
letztlich verzichtbar. Ein Gedankenschritt, der mit einiger Konsequenz
auf den Impressionismus folgt und in die gegenstandslose Malerei führt.
Als Witz wird dieser Schritt bereits 1882 von Paul Bilhaud auf einer Gruppenausstellung
der 'Incoherents' mit einem schwarzen Bild und dem Titel "Neger beim nächtlichen
Kampf im Keller" vollzogen. Es dauert eine Weile, bis Kandinsky, Delaunay,
Malewitsch, Mondrian daraus Ernst machen. Etwas länger ist der Weg,
bis 1916 Adolf Hölzel dann die Formel von der Absoluten Malerei
findet. Danto gibt zu der Idee der Säuberung einen nachdenkenswerten
Hinweis:
"Es ist nicht erstaunlich - nur schockierend - , zu erkennen, daß die politische Analogie zur Moderne in der Kunst der Totalitarismus ist, mit seinen Vorstellungen rassischer Reinheit und seinem Programm der Austreibung vermeintlicher Verseuchungselemente." (Arthur. C.Danto, "Die Moderne und die Kritik der reinen Kunst" in "Das Fortleben der Kunst", 2000, S. 103 ) |
C) Amerikaner gegen Europäer
Noch vor dem ersten Weltkrieg setzt ein
reger Kunstexport von Frankreich nach Amerika ein, der durch Künstler
verstärkt wird, die vor dem Krieg sich nach Amerika absetzen (z.B.
Francis Picabia, Marcel Duchamp). Erste Ausstellungen der europäischen
Moderne entfachen in New York, Boston und Chicago (1913 Armory Show) einen
Sturm öffentlichen Interesses und eine nachhaltige Verwirrung über
den Impressionismus, den Kubusmus und die Anfänge der Abstrakten Kunst.
Die Verwirrung erreichte einen Grad, der zu zahlreichen Austritten von
Mitgliedern und schließlich zur Auflösung der veranstaltenden
Association
of American Painters and Sculptors führte.
Dass diese "Fürsprecher" auf die Hilfe
der CIA zurückgreifen konnten wirft ein bezeichnendes Licht auf die
Bedeutung staatlicher Kunstförderung nicht nur in den USA. Einer der
lautesten Fürsprecher in Europa war Werner Haftmann, der mit
seiner Dokumenta II noch 1959 einen wesentlichen Beitrag dazu leistete,
dass der Abstrakte Expressionismus in unseren Kunstgeschichtsbüchern
immer noch als die maßgebende amerikanische Inspiration nach dem
Krieg gefeiert wird:
Auch auf der Documenta II ist von
der Pop-Art noch nichts zu sehen. Dabei war die amerikanische "Contemporary
Art" zu diesem Zeitpunkt schon über den abstrakten Expressionismus
hinausgewachsen und hatte Robert Rauschenberg schon 1953 mit seinem "Erased
De Kooning" das entsprechende Zeichen gesetzt.
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Clement Greenberg |
Barnett Newman |
Jackson Pollock |
Die Helden einer fiktiven Kunstschlacht
Die Schlachten sind geschlagen, im Hintergrund rauchen noch die Feuer
der Kämpfe während vorne die Sieger den Besiegten eine Erklärung
der Kapitulation aufnötigen. Rechts die hemdärmligen Sieger locker
vor einem Panzer gruppiert, links im Hintergrund eine etwas antiquiert
mit Lanzen bewaffnete Reiterei (Avantgarde) und in schneidige Kostüme
gewandete Offiziersschickeria. Am Tisch stehen sich gegenüber die
Strategen beider Seiten. Clement Greenberg, der Wortführer der Amerikaner
und Verteidiger von Spritz- und Wischbildern, steht in einer Pfütze
und sieht mit Händen lässig in den Hosentaschen zu, wie André
Breton als Wortführer der Franzosen seine Unterschrift leistet.
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Mark Tansey, "Triumph of the New York School", Öl monochrom auf Leinwand, 188 x 304.8 cm,1984 |
Tanseys fiktives Historienbild übertreibt natürlich ein wenig. Und er macht sich lustig über ganz viele Dinge, die uns in der Kunstgeschichte der Moderne begegnen. Schon die Wahl des Formats und der durch die Moderne totgesagten Gattung Historienbild sind ein Einspruch gegen ein Theorem der Moderne. Der monochrome Braunton leugnet den von der Moderne postulierten Primat der Farbe. Das Schlachtenszenario bringt Helden hervor, wie auch Sieger und Besiegte. Dergleichen gibt es in der Kunst, mit Ausnahme etwa der politisch Verfolgten, nicht wirklich. Allerdings lieben die Herolde der Moderne einen militanten Sprachduktus in ihrer Rede von den "Avantgarden" (Vor-Reiter), in den zahllosen Manifesten, die sich teilweise wie Kriegserklärungen lesen. Die 'Schlacht' der New York School gegen die bereits etablierte Kunst der bereits 'klassischen' Moderne war nicht mehr als einer der üblichen Generationenkonflikte, der Wunsch nach musealer Würdigung, durchsetzt mit dem Bedürfnis nach nationaler Selbstbehauptung, und war bestenfalls ein Marketing Feldzug. Er wurde begleitet von einigen lauten Kritikergesängen, die auf diese Weise ihre Deutungshoheit über eine Kunst geltend machten, die ihr Publikum noch nicht zufriedenstellend gefunden hatte. Schließlich wollte das Kulturmanagement der größten Siegermacht des 2. Weltkriegs den Europäern eine eigenständige Kunst vorweisen, die zu ihrem Image als liberale und demokratische Nation eine hübsche und passende Dekoration liefern konnte. |
Literatur
Rewald, "Die Geschichte des Impressionismus", 2001 Arthur C. Danto: "Tiere als Kunsthistoriker" in "Kunst nach dem Ende der Kunst", 1996 Arthur. C.Danto, "Die Moderne und die Kritik der reinen Kunst", 2000 Wolfgang Ulrich: "Das unschuldige Auge" in "Was war Kunst", 2005 Astrit Schmidt-Burkhardt, "Stammbäume der Kunst", 2004 |